Wiederveröffentlicht: Rezension zu Ines Geipel und Joachim Walther "Gesperrte Ablage"

 (NACHTRAG: Inzwischen ist die Plattform fixpoetry als Gründen mangelnder Finanzierung offline gegangen; die dort ursprünglich im Februar 2016 veröffentlichte Rezension wird deshalb hier im Beitrag eingefügt)





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Falsche Leben

Ines Geipel und Joachim Walther berichten über in der DDR verbotene und verkrüppelte literarische Stimmen

Es ist eine erschreckende Sammlung, die Ines Geipel und Joachim Walther hier vorlegen: an die hundert Einzelschicksale aus vierzig Jahren DDR, die eines gemeinsam haben – ihre literarischen Ambitionen wurden in der DDR und durch die DDR (ihre Staatsorgane) verfolgt, beschnitten, bestraft und gar nicht selten abgewürgt / getötet. 430 Seiten hat dieses im strengen Sinne quälende Buch. Der geschichtlichen Detaildarstellung voran stehen zwei Essays der beiden Autoren. Ines Geipel ordnet anlässlich einer neuerlichen Verfilmung den Roman „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz als verlogenen, geschichtsklitternden Buchenwald-Mythos ein, der die Verbrechen der KPD-Kapos und späteren DDR-Funktionäre übertünchen sollte und Joachim Walther äußert sich zusammenfassend zum Programm des Archivs unterdrückter Literatur der DDR, das er und Geipel seit 2001 zusammengetragen haben. Dann folgt auf ca. 270 Seiten eine Chronik des Schreckens: eine Darstellung des andauernden Verfolgungswahns und der Unbarmherzigkeit des DDR-Regimes gegenüber stärker abweichenden, hinterfragenden oder den vorgegebenen realistisch-sozialistischen Rahmen verlassenden Autorinnen und Autoren. Konzentriert auf konkrete Schickale einzelner Personen oder lokaler Literaturgruppen durchschreitet die Darstellung neben der Nachkriegszeit alle vier Jahrzehnte der DDR. Ines Geipel schildet dabei die ersten zwanzig bzw. fünfundzwanzig Jahre bis zum Ende der 1960er Jahre, Joachim Walther dann die Jahre von 1970 bis 1989. Was dabei deutlich und insbesondere von Joachim Walther auch explizit so ausgesagt wird, ist, dass die engmaschige und engherzige staatliche Verfolgung unpassender literarischer Stimmen nicht nur ein Phänomen der stalinistischen Anfangsjahre war, sondern sich bis in die Endphase des zweiten deutschen Staates durchzog. Verändert haben sich – tendenziell – die staatlichen Anlässe und Formen der Intervention sowie die Härte der Bestrafung, wenngleich der Grundtatbestand der politischen Verfolgung und der staatlichen – insbesondere geheimdienstlichen – Willkür uneingeschränkt erhalten blieb. Am Ende des Bandes findet sich neben einem Personenregister und einem Literaturverzeichnis, das vor allem die ebenfalls von Geipel und Walther bei der Büchergilde Gutenberg herausgegebenen Bände der Verschwiegenen Bibliothek aufführt, eine Gesamtaufstellung der im Archiv unterdrückter Literatur in der DDR erfassten Autorinnen und Autoren mit ihren Biographien, den im Archiv einsehbaren Texten  und ihren sonstigen Veröffentlichungen.

Die Art der Darstellung und das Anliegen des Bandes verbieten geradezu eine weitergehende Kommentierung und Einordnung. Persönliche Schicksale sind gerade wenn es sich um Leidensgeschichten handelt, per se und eingeschränkt schrecklich, unzumutbar: ein Skandal. Ihre Sammlung als sich – strukturell ähnlich – immer wieder wiederholende Ereignisse verweist auf menschenverachtende Muster, gewalttätige Routinen oder sogar verbrecherische Strukturen, die die DDR prägten. Ob und wie verallgemeinerbar, gesetzmäßig und unabwendbar, nicht nur an bestimmte historische Konstellationen und Personen gebunden, diese brutale, zerstörerische staatliche Praxis zu nennen ist, dass können Einzelfälle allerdings nicht aufklären. Auch wenn das Urteil der beiden Autoren des Bandes eindeutig ist: Für sie bedeuten all die sichtlich zerstörten Leben den moralischen Bankrott des gesamten sozialistischen bzw. kommunistischen Projekts.

Insbesondere Joachim Walther ist bei dieser Verurteilung ausgesprochen scharf und deutlich. Sie ist in seiner Nacherzählung der Unterdrückungsgeschichte literarischer Stimmen seit den 1970er Jahren ständig präsent als mitlaufender und sich steigernder Kommentar. Genau dies schwächt aber auch die Darstellung – Walther deutet viel stärker als zu zeigen. Er hat, dass wird deutlich, von vornherein eine Position und muss diese, so als würde er den Fallgeschichten und dem Urteil der Leserinnen und Leser nicht völlig vertrauen, immer wieder erklärend und zusammenfassend einbringen.

Ganz anders als Ines Geipel, die in ihrer Schilderung der ersten zwanzig DDR-Jahre sprichwörtlich gefangennehmende Lebensgeschichten arrangiert und vorführt: das Leiden, die Verkrüppelung nicht nur benennt und faktenmäßig aufführt, sondern in geradezu lyrisch zu nennenden Wortkaskaden als tragisches Schicksal greifbar macht, das man niemanden, wirklich niemanden wünschen würde. Das ist stellenweise suggestiv und – insbesondere was das Argumentieren mit rhetorischen Fragen angeht – manchmal auch manipulativ (nicht mehr wissenschaftlich neutral): aber im Sinne des sichtlich verfolgten Ziels – betroffen zu machen, das DDR-Regime anzuklagen, es zu verdammen – auf jeden Fall effektiver.

Dabei gelingt es Geipel auch, dem Leser kräftige Eindrücke davon zu vermitteln, das hier immer wieder besondere literarischen Stimmen kaputt gemacht wurden – ihre Eigentümlichkeit und Individualität zu betonen, so dass ihr staatlich verursachtes Verkümmern als Verlust nachfühlbar wird. Walther hingegen interessiert sich – zumindest erweckt seine Darstellung den Eindruck – eher für die politische Positionierung, den Dissidentenstatus der verfolgten Autorinnen und Autoren und weniger für ihre eigentümliche (zerbrochene, verhinderte) literarische Stimme. Statt emphatisch zu schildern, bemüht er lediglich Autorenreferenzen oder eigene (analytische) Wertungen, dass Gabrielle Stötzer beispielsweise viel emanzipierter und feministischer sei als Christa Wolf. Oder er referiert über Inhalte und Themen (z.B. seitenlang über die Einzeltitel und Einzelteile des Fragmentromans von Thomas Körner), statt – wie Geipel – den eigentümlichen Ton, die Poetologie der Autorinnen und Autoren herauszuarbeiten. So fällt es teilweise schwer eine innere Beziehung zu den von Walther dargestellten Literaten herzustellen (also ihre besondere Tragik mitzufüllen, nicht nur die Tragik und Verwerflichkeit jeglicher politischen Verfolgung) – insbesondere wenn die exemplarisch abgedruckten Texte entweder wenig zugänglich /spröde daher kommen (wie zum Bespiel im Fall von Thomas Körner) oder literarisch nicht recht überzeugen. Merkbar wird dies, wenn die widergegebenen Autorentexte einmal auch für sich stehen können (aus sich selbst heraus Kraft haben), wie im Falle der Gedichte von Radjo Monk.

Insofern fallen die beiden jeweils von Geipel und Walther verfasste Textteile deutlich auseinander: gibt es – stereotypisierend gesprochen – eine eher weibliche und männliche Seite der Geschichtsdarstellung, die man sich alles in allem stärker verbunden, weniger kontrastierend gewünscht hätte. Unabhängig davon ist das Buch zu würdigen als eine fordernde – insistierende, bisweilen etwas inquisitorische – Lektüre (insbesondere wenn es, wie den Rezensenten, zur Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft und den zum Glück nicht mehr erlebten Verfolgung einlädt). Man kann, das ist Verdienst dieses Bandes als auch des dahinter stehenden langjährigen Forschungsprojekts, nun nicht mehr nicht wissen, wie schlimm, wie eng es war und werden konnte in der DDR gerade für Menschen, die sich zum literarischen Schreiben gerufen fühlen.

Ines Geipel / Joachim Walther (2015). Gesperrte Ablage. Unterdrückte Literaturgeschichte in Ostdeutschland 1945 – 1989. Düsseldorf: Lilienfeld Verlag. 430 S., ISBN 978-3-940357-50-2, 24,90 €.

Wiederveröffentlicht: Rezension zu Carolin Callies

 (NACHTRAG: Inzwischen ist die Plattform fixpoetry als Gründen mangelnder Finanzierung offline gegangen; die dort ursprünglich im Mai 2015 veröffentlichte Rezension wird deshalb hier im Beitrag eingefügt)


Anspruchsvoll/störend: Carolin Callies‘ Phänonomenologie der Sinne

Gedichte müssen nicht gefallen, sie sollten bewegen! Das sagt sich so leicht, wenn es um Emotion, Gedanken, um Geschichte geht. Aber wie ist es mit Spucke, Schweiß, Urin und sonstigem Glibber?

Wie gut, dass es auch andere Stimmen geben wird. Auf dass dem Lyrik-Debutband von Carolin Callies viel gradliniger, gehäufter und uneingeschränkter ein wohlwollende Aufnahme zukommen kann, als mir möglich ist. Denn eigentlich ist gar nichts auszusetzen: sowohl was die Dichte der Gedanken und Beobachtungen angeht, die Klangtiefe und -vielfalt der Verse (der Humor, der Ernst, die Selbstironie) als auch bezogen auf den  Anregungs- und Überraschungsreichtum der Sprache, immer dem eigentlichen, dem untergründigem, einem alten Wort-laut nachspürend. Da könnte ich sogar von „begeisternd“ sprechen.

Und doch: bis zum Gefallen reicht es nicht. Das wird wohl, so ungern ich es hier zugebe, eher an mir und meiner Fähigkeit, meinem Willen liegen, mich so sehr auf die Texte einzulassen, wie sie es brauchen und verdienen. Das zeigte sich mir schon beim ersten, dem programmatisch vorangestellten Text: „der körper ist ein geschichtenband“ … ein anregend-gehaltvoller Titel, raum- und gedankenöffnend. Auch die ersten zwei Zeilen der ersten Strophe kommen mir noch ähnlich willkommen heißend, als Handreichung und Einladung in eine Gedankenwelt entgegen:

hier liegt ein punkt, von dem gehen fünf finger los / & kehren nur noch drei zurück.

Bildlich war ich da angekommen beim Blick auf meine offene Handfläche und grübelnd darüber, , welches Symbol sich dadurch auszeichnet, zwei Finger ausgestreckt zu lassen (die Pistole, der AC/DC-Teufel mit eingeklappten Daumen, nicht: der Zeigefinder, nicht: der Fuck-You-Mittelfinger). Angeregt war ich zu einem Themenkreis des Verlorengehens (der Heimkehr der Verbliebenen – Überlebenden oder Gescheiterten), um dann in den nächsten zwei Zeilen allein gelassen, vor den Kopf gestoßen zu werden:

was allseits vom fuß in den magen geriet: / wir erzählen‘s im ziehn von tentakeln

Nicht die Bilder selbst waren es, die mich verwirrten (das etwas – unabhängig vom allseits – vom Fuß in den Magen geraten könnte, vermag ich mir vorzustellen,  ebenso das Ziehen von Tintenfischtentakeln), sondern das machte der Eindruck, dass mich der Text hier bewusst als Leser fallen lässt; er sich bewusst einer konsistenten, aufeinander aufbauenden, im Sinne eines Kameraschwenks verbundenen Bilderwelt verweigert. Ich sollte, so trat mir das Gedicht plötzlich gegenüber, mich schwertun, mich verlieren in Rätselworten und -collagen. Bewusst, so schien mir dann auch beim weiteren Lesen im Gedichtband, wollen Callies‘ Gedichte nicht einfach sein. Sie wollen erarbeitet werden oder anders: akzeptiert hermetisch bleiben … ein Geheimnis bewahren, eine eigene, sich erst spät oder gar nicht auftuende, Metaphernwelt seltsamer Beutel. Denn noch weiter ging es (zweite Strophe und abschließend, dritte Strophe):

& erzählen vom schweiß als vollem gefäß, / vom rausbrechen der fußstücke als leichtester übung./ wir trocknen die haut am stück / & hängen sie in beuteln auf, erzählen wir’s also in beuteln//

& wo landen die beutel, auf den abort geraten? / in der tonne, in ‘nem becher oder einem spucknapf gar? / in buchattrappen, vollen kehlen? Wir haun darauf. / im losen, glaub’s mir, hörn die geschichten tentakelärmlig auf.//

Persönliche Bekenntnisse mögen zwar in einer Rezension nicht recht passen, aber zur Erklärung meiner Schwierigkeiten mit Callies‘ Texten scheint es unerlässlich: Ich tue mich immer schwer damit, Bilder körperlicher Verstümmelung oder Versehrung (Folter, Krankheit, Tod) an mich heran, in mich hineinzulassen. Sei es in Filmen, in Büchern oder in Nachrichtensendungen – oder eben nun bei Callies (Rausbrechen von Fußstücken, der Körper als leerer oder schweißvoller Beutel, zerplatzend). Dass hier abgedruckte Eingangsgedichts ist noch ein eher schwaches Beispiel. Andere Gedichte sind wesentlich eindringlicher, konkreter in der Fassbarmachung von einem (normalen, alltäglichen, allgegenwärtigen) Siechtum. Damit kein falsches Verständnis aufkommt: Die kranken, die hässlichen Seiten der leiblichen Existenz sind keineswegs das Hauptthema oder der Grundtenor des Gedichtsammlung von Carolin Callies. Gegenständlich geht es „einfach“ um die normale klebrig-feuchte, geruchshaltige, sinnlich konkret erlebbar Seite der Existenz. Das steht schon im Titel des Buches „fünf sinne & nur ein besteckkasten“, der zugleich eine Inhaltsangabe über das Buch mit seinem sechs Kapiteln ist, in denen, soweit es sich klar voneinander abgrenzen lässt, das Riechen, Schmecken, Sehen, der Tast- und der Orientierungssinn und schließlich das Nachdenken darüber (sortierend) „verhandelt“ werden. Insofern steht ja schon auf dem Buch, was darin ist … nur wie nahegehend, wie herausfordernd und konfrontativ dies meine eigene (unbewusst-impulshafte, verdrängte?) Körperfeindlichkeit tangiert, das war nicht vorauszusehen.

Kurz gesagt: Callies legt mit ihrem Debut-Band eine Sammlung sprachlich-ästhetisch ansprechender, gehaltvoll durchgearbeiteter, bewusst schwieriger Gedichte vor, die mir (!) wegen ihrem mich (!) provozierend-verstörenden Gehalt nicht gefallen können, die ich (!) ungern an mich heran, ungern in mich (!) hinein lasse … aber gerade das macht sie (meine Widerstände reflektierend) auch besonders und empfehlenswert, verleiht ihnen Schärfe und persönliche Brisanz.

Carolin Callies (2015), fünf sinne & nur ein besteckkasten. Gedichte. Schöffling & Co., 111 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, 18,95 € (D), ISBN: 978-3-89561-448-4



Wiederveröffentlicht: Rezensionen zu Björn Kuhligk und Maarten Inghels bei hochroth

(NACHTRAG: Inzwischen ist die Plattform fixpoetry als Gründen mangelnder Finanzierung offline gegangen; die dort ursprünglich im November 2014 veröffentlichte Rezension wird deshalb hier im Beitrag eingefügt)


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Zwei auf einen Streich – Björn Kuhligk und Maarten Inghels bei hochroth

Das vergleichende Besprechen von Lyrikbänden hat den Vorteil, dass das eigene Behagen und Unbehagen an einzelnen Texten besser illustrierbar wird. Was in dem einen Gedicht als misslungen erscheint, kann durch den gelungenen anderen Versuch, die andere Stimme klarer benannt werden – als durch den bloßen Verweis auf (notgedrungen) abstrakte Kategorien und allgemeine poetologische Beurteilungsmaßstäbe. Hier also nun: Björn Kuhligk und Maarten Inghels im Kontrast.

Da es mir – als dem Literaturbetrieb fernstehender Hobbyrezensent – zuweilen schwer fällt, angesichts der bloßen Autorennamen und Titelnennungen in Neuerscheinungslisten, im Voraus abzusehen, welche der neuen lyrischen Stimmen mich interessieren / begeistern könnten, lasse ich mir bisweilen ein Überraschungspaket zusenden. Im letzten derartigen Brief von fixpoetry waren gleich zwei … Heftchen aus der hochroth-Lyrikreihe: der 2013 erschienene deutsch-litauische Band „Ich hab den Tag zerschnitten“ des Berliner Lyrikers Björn Kuhligk und der Band „ Es gibt keine bellende Hunde mehr“ des niederländischen Dichters Maarten Inghels aus demselben Jahr.

Schon bei meiner zuvorigen (erstmaligen) Begegnung mit dem Veröffentlichungskonzept des hochroth-Verlages war ich begeistert: vom klar-minimalistischen Design, vom schwarzen, seitlich beschnittenen Umschlag mit einer runden Ausstanzung, von der (wie ich online nachlas) manuellen Herstellung der Hefte, vom A5-Format und vor allem vom geringen Umfang.

Für Gedichtveröffentlichungen – so scheint es mir – sind 20 bis 30 Seiten genau richtig … Lyrik lässt sich nicht auf Masse, seriell (hinter einander weg) lesen. Jeder Text verlangt zu sehr und zu berechtigt ein eigenständig-vereinzeltes Wahrnehmen, ein langes tiefes Durchatmen. Da stört, da irritiert eine Sammlung von über 100 Seiten: Das Gefühl – die Gewissheit – nicht allen Texten gleichermaßen gerecht werden zu können, sich im Lesen bald zu Erschöpfen prägt/gefährdet die Lektüre von vornherein. In dieser Hinsicht scheinen die schmalen Gedichtbände im hochroth-Verlag wie eine Befreiung, eine wohlwollende Einladung sich im Alltag öfter mal lyrisch begleiten zu lassen, nicht zuletzt motiviert durch den kleinen Preis und das  handliche Format.

Dass mir nun gleich zwei dieser Hefte auf dem Tisch landeten, erwies sich dann auch in einer anderen Hinsicht als Glücksfall: Ließ sich doch das schnell und intensiv auftretende Unbehagen mit den Versen des Einen auffangen und kompensieren durch die Freude mit den Gedichten des Anderen. Und vor allem, so schien mir plötzlich, würde mein Unbehagen plötzlich greifbarer, beweisbarer und nachvollziehbarer im Kontrast zur parallelen Begeisterung (die dann implizit, auch verdeutlichen würde, dass ich nicht per se Unmut äußere und Verdammung, sondern durchaus – unter bestimmten, benennbaren Bedingungen – des Lobes fähig bin).

Also offen und kurz gesagt: Während mich das Bändchen von Björn Kuhligk schnell zum Weglegen reizte, lud mich das Heft von Maarten Inghels je länger, je mehr zum Verweilen und Vertiefen ein (und füllte mich zugleich mit einem einzelnen Text derart aus und an, dass an ein sofortiges Weiterlesen kaum zu denken war). Kuhligks Gedichte erschienen mir flach und stereotyp, bisweilen sogar lyrisch falsch, wo sich mir in Maartens Texten glaubhaft einzigartige Situationen und Eindrücke entfalteten, um zugleich etwas Bewegend-Überraschend-Allgemeines anzusprechen.

Mein Unbehagen an Kuhligks Poetik dagegen nährte sich fast an jedem der elf (jeweils auch auf Litauisch abgedruckten) Gedichte. Die Verse, Stophen und Zeilenumbrüche blieben für mich oft nachklanglos und leer – vor allem wegen der vielen abgedroschene Bilder ohne erkennbare ironische Brechung wie z.B. im Titel gegebenden Gedicht  „Ich habe den Tag zerschnitten“. Das sind (wiedermal) „meine Lippen / zwei Pilger“ und „deine Füße / die verspielten Vögel“ und deuten so (für mich) statt auf ein Erleben auf eine ausgedacht-erwartungsbedienendes Wortkneten. Besondern fern, falsch und verräterisch erschien mir in selben Gedicht die Wahrnehmung (durch die Satzkonstruktion etwas verrätselt) „und zwei Augen deine Brüste / mit denen du mich liest“. Erkennbar wurde so für mich, wo DER SPRECHER dieser Verse seine Aufmerksamkeit und seine Augen hat und wie abgerückt er liegen muss, um die zwei Brustwarzen zugleich in den Blick zu nehmen (bzw. von ihnen gelesen zu werden).

Auch andere Gedichte demonstrieren, dass die Frauen (die Anderen) für das Ich der Texte eher Objekt als Subjekt sind („die Frau wärmt sich vor“, S. 14). Insbesondere am Gedicht über „Die sieben Geliebten“ lässt sich dies illustrieren. 

DIE SIEBEN GELIEBTEN // Die erste liegt / mir auf dem Schoß / vor blutigen Tagen // die zweite geht mir / stotternd aus dem Sinn / und bündelt die Jahre // die dritte ist ein Garten / entzündet von Vogelschreien // die vierte gibt es nicht // die fünfte sagt Liebe / und ich glaube es nicht // die sechste trägt / Kusskantaten auf der Brust // die siebte geht / und zerstört die Woche //

Der Text beinhaltet wenig mehr als eine Liste von Frauen (die Doppeldeutigkeit zu Wochentagen scheint mir allzu belanglos und nicht weit zu tragen), die da jemand hatte, als Anlass für eigene Lust und eigenes Leid und poetische Reflektionen darüber, die aber nicht durchgeführt, nur zweizeilig angedeutet werden, und vor allem keine Entwicklung / Veränderung des Ichs implizieren (warum er zum Beispiel solche Berge an Verflossenen hinterlässt).

Generell ist mein Problem mit Kuhligks Texten, dass ich ihm zwar glaube, dass das, was er dort beschreibt, ein reales Erlebnis oder eine gewesene Empfindung sein kann. Doch das lebt nicht, das atmet sich nicht für mich aus den Texten; es hat kein Geheimnis. So mag es die Russin aus dem Gedicht „Sie macht am liebsten Pasta“ wirklich geben, doch mehr als eine – unterschwellig furchtbar stereotype – Skizze über diese, eine Person kann ich nicht erkennen: nichts was auf etwas Allgemeines verweist in diesem besonderen Fall.

Wie anders, wie nährend, wie irritierend und beglückend sind dagegen die Themen und Verse von Maarten Inghels. Insbesondere das dreiteilige Gedicht „Ein Foto wurde gefunden, auf dem du lachst“ hat mich schnell für diesen Autoren eingenommen. Erst nach und nach enthüllt sich hier die Situation einer Totenwache, was dem sinierend-fragenden Monolog des lyrischen Ichs erst einmal ein beinahe irreales Schweben ermöglicht, in dem ich als Leser meine eigenen Anschlüsse / Assoziationen einpflege, was hier sein/passieren könnte – eine selbst hinzugesetzter Gegenhorizont der Textinterpretation, der durch die zunehmende (nicht als Clou oder düstere Pointe eingeführte) Verdeutlichung der Sprechersituation nicht verloren geht, sondern als weitere Ebene dem Text eingewoben bleibt. Dass so etwas gelingt, scheint mir eine besondere Fähigkeit des Autoren. Seine Verse (be-)rühren; sind auch ohne sofort erkennbare reale Verortung in mir (philosophisch interessierten, eher verkopften) Leser anschlussfähig; Wurzeln irgendwie in etwas von mir geteiltem, archetypischem. Zur besseren Erläuterung vielleicht: der Einstieg (die erste vier Verse von Teil I) in das gerade erwähnte mehrseitige Gedicht.

Wir können sagen, dass du immer noch / deinen Namen kennst. Ich vergesse / schon mal mein Alter, doch immer // kommt es in Schüben zu Bewusstsein: so alt / einerseits und mein Kopf weiß andererseits, / dass jeder mal länger zum Nachdenken // braucht. Das du so leben willst / in diesem furchtbaren Licht, wie ein Geist, / sagen mache. Doch ich meine, du seist eine // Puppe, die noch da ist, zu der gesagt wird: / Der Wahn des Tages, Namen, ein Vorfall im Bus – / aber immer kurz und schnell ein Kuss. //

Schon angesichts der einzelnen Verszeilen, der tieferweisenden Umbrüche, des sich schrittweise entfaltenden Bedeutungs-Kosmos könnte ich Schwärmen – wenn eine solche Behauptung von Leichtigkeit nicht grundlegend im Widerspruch stünde zum fesselnd-gedankenschweren Gang und Sog der (von Janet Blanken ins Deutsche übertragenen) Verse, die sich – und das ist als Qualitätsmerkmal gemeint – nicht auf einen einfachen Nenner bringen lassen. Man könnte sogar sagen, die Lyrik von Maarten Inghels ist derart dicht, dass die in dem hochroth-Bändchen versammelten vierzehn Texte fast zu viel sind, die Gefahr über die Begeisterung für den Einen, die Würdigung des anderen zu vernachlässigen schon zu groß …

Der Kontrast zu den Gedichten von Björn Kuhligks kann kaum größer sein (hier hätte ich mir letztlich noch mehr Texte gewünscht, in der Hoffnung auf eine besondere Nuance oder Entdeckung). Die Aufklärung dieser irgendwie fundamentalen Differenz beider Lyriker steckt für mich in einem weiteren Gedicht von Maarten Inghels, das als erster Text den hochroth-Band programmatisch einleitet, und den ich mir auf Kuhligksche Art gefühlt und formuliert zukünftig wünschen würde.

ACHTSAM // Der Dichter sollte immer darauf achten, / vor allem zärtlich zu sein. / Täglich für sie aus dem Himmel fallen wollen, / dafür sorgen, dass der Jazz seine Muskeln weniger stramm macht. // Er sollte immer darauf achten, dass / es ausreichend Ablenkung für / unser Herz gibt, wir die Verse des Dichters / noch in das Ohr einer Frau flüstern können. // Er sollte immer darauf achten, / manchmal schwach zu sein, / damit der Wind es von seinem Gehör gewinnt, ihm / Sätze einflüstert, womit er einen Körper // um seinen Finger baut. / Wonach der Dichter sagen kann: Oh, umarme mich, / so bald bin ich noch nicht vorbei.//


Maarten Inghels: Es gibt keine bellenden Hunde mehr. Aus dem Niederländischen von Janet Blanken. Tübingen: hochroth-Verlag, 2013, 28 Seiten, ISBN 978-3-902871-33-6, 6,00 €, http://www.hochroth.de/3124/es-gibt-keine-bellenden-hunde-mehr/

Björn Kuhligk: Ich habe den Tag zerschnitten / Es sagriezu dienu. Deutsch/Lettisch; übersetzt von Amanda Aizpuriete. Riga: hochroth-Verlag, 2013, 23 Seiten, ISBN: 978-9934-8383-0-9, 6,00 €, http://www.hochroth.de/3151/bjorn-kuhligk-poesietransfer/