(NACHTRAG: Inzwischen ist die Plattform fixpoetry als Gründen mangelnder Finanzierung offline gegangen; die dort ursprünglich im Mai 2015 veröffentlichte Rezension wird deshalb hier im Beitrag eingefügt)
Anspruchsvoll/störend: Carolin Callies‘ Phänonomenologie der Sinne
Gedichte müssen nicht
gefallen, sie sollten bewegen! Das sagt sich so leicht, wenn es um Emotion,
Gedanken, um Geschichte geht. Aber wie ist es mit Spucke, Schweiß, Urin und sonstigem
Glibber?
Wie gut, dass es auch andere Stimmen geben wird. Auf dass
dem Lyrik-Debutband von Carolin Callies viel gradliniger, gehäufter und
uneingeschränkter ein wohlwollende Aufnahme zukommen kann, als mir möglich ist.
Denn eigentlich ist gar nichts auszusetzen: sowohl was die Dichte der Gedanken
und Beobachtungen angeht, die Klangtiefe und -vielfalt der Verse (der Humor,
der Ernst, die Selbstironie) als auch bezogen auf den Anregungs- und Überraschungsreichtum der Sprache,
immer dem eigentlichen, dem untergründigem, einem alten Wort-laut nachspürend.
Da könnte ich sogar von „begeisternd“ sprechen.
Und doch: bis zum Gefallen reicht es nicht. Das wird wohl,
so ungern ich es hier zugebe, eher an mir und meiner Fähigkeit, meinem Willen
liegen, mich so sehr auf die Texte einzulassen, wie sie es brauchen und
verdienen. Das zeigte sich mir schon beim ersten, dem programmatisch
vorangestellten Text: „der körper ist ein
geschichtenband“ … ein anregend-gehaltvoller Titel, raum- und
gedankenöffnend. Auch die ersten zwei Zeilen der ersten Strophe kommen mir noch
ähnlich willkommen heißend, als Handreichung und Einladung in eine Gedankenwelt
entgegen:
hier liegt ein punkt,
von dem gehen fünf finger los / & kehren nur noch drei zurück.
Bildlich war ich da angekommen beim Blick auf meine offene
Handfläche und grübelnd darüber, , welches Symbol sich dadurch auszeichnet,
zwei Finger ausgestreckt zu lassen (die Pistole, der AC/DC-Teufel mit
eingeklappten Daumen, nicht: der Zeigefinder, nicht: der Fuck-You-Mittelfinger).
Angeregt war ich zu einem Themenkreis des Verlorengehens (der Heimkehr der
Verbliebenen – Überlebenden oder Gescheiterten), um dann in den nächsten zwei
Zeilen allein gelassen, vor den Kopf gestoßen zu werden:
was allseits vom fuß
in den magen geriet: / wir erzählen‘s im ziehn von tentakeln
Nicht die Bilder selbst waren es, die mich verwirrten (das
etwas – unabhängig vom allseits – vom Fuß in den Magen geraten könnte, vermag
ich mir vorzustellen, ebenso das Ziehen
von Tintenfischtentakeln), sondern das machte der Eindruck, dass mich der Text
hier bewusst als Leser fallen lässt; er sich bewusst einer konsistenten,
aufeinander aufbauenden, im Sinne eines Kameraschwenks verbundenen Bilderwelt
verweigert. Ich sollte, so trat mir das Gedicht plötzlich gegenüber, mich
schwertun, mich verlieren in Rätselworten und -collagen. Bewusst, so schien mir
dann auch beim weiteren Lesen im Gedichtband, wollen Callies‘ Gedichte nicht
einfach sein. Sie wollen erarbeitet werden oder anders: akzeptiert hermetisch
bleiben … ein Geheimnis bewahren, eine eigene, sich erst spät oder gar nicht
auftuende, Metaphernwelt seltsamer Beutel. Denn noch weiter ging es (zweite
Strophe und abschließend, dritte Strophe):
& erzählen vom
schweiß als vollem gefäß, / vom rausbrechen der fußstücke als leichtester
übung./ wir trocknen die haut am stück / & hängen sie in beuteln auf,
erzählen wir’s also in beuteln//
& wo landen die
beutel, auf den abort geraten? / in der tonne, in ‘nem becher oder einem
spucknapf gar? / in buchattrappen, vollen kehlen? Wir haun darauf. / im losen,
glaub’s mir, hörn die geschichten tentakelärmlig auf.//
Persönliche Bekenntnisse mögen zwar in einer Rezension nicht
recht passen, aber zur Erklärung meiner Schwierigkeiten mit Callies‘ Texten scheint
es unerlässlich: Ich tue mich immer schwer damit, Bilder körperlicher
Verstümmelung oder Versehrung (Folter, Krankheit, Tod) an mich heran, in mich
hineinzulassen. Sei es in Filmen, in Büchern oder in Nachrichtensendungen –
oder eben nun bei Callies (Rausbrechen von Fußstücken, der Körper als leerer
oder schweißvoller Beutel, zerplatzend). Dass hier abgedruckte Eingangsgedichts
ist noch ein eher schwaches Beispiel. Andere Gedichte sind wesentlich
eindringlicher, konkreter in der Fassbarmachung von einem (normalen,
alltäglichen, allgegenwärtigen) Siechtum. Damit kein falsches Verständnis
aufkommt: Die kranken, die hässlichen Seiten der leiblichen Existenz sind
keineswegs das Hauptthema oder der Grundtenor des Gedichtsammlung von Carolin
Callies. Gegenständlich geht es „einfach“ um die normale klebrig-feuchte,
geruchshaltige, sinnlich konkret erlebbar Seite der Existenz. Das steht schon
im Titel des Buches „fünf sinne & nur ein besteckkasten“, der zugleich eine
Inhaltsangabe über das Buch mit seinem sechs Kapiteln ist, in denen, soweit es
sich klar voneinander abgrenzen lässt, das Riechen, Schmecken, Sehen, der Tast-
und der Orientierungssinn und schließlich das Nachdenken darüber (sortierend)
„verhandelt“ werden. Insofern steht ja schon auf dem Buch, was darin ist … nur
wie nahegehend, wie herausfordernd und konfrontativ dies meine eigene
(unbewusst-impulshafte, verdrängte?) Körperfeindlichkeit tangiert, das war
nicht vorauszusehen.
Kurz gesagt: Callies legt mit ihrem Debut-Band eine Sammlung sprachlich-ästhetisch ansprechender, gehaltvoll durchgearbeiteter, bewusst schwieriger Gedichte vor, die mir (!) wegen ihrem mich (!) provozierend-verstörenden Gehalt nicht gefallen können, die ich (!) ungern an mich heran, ungern in mich (!) hinein lasse … aber gerade das macht sie (meine Widerstände reflektierend) auch besonders und empfehlenswert, verleiht ihnen Schärfe und persönliche Brisanz.
Carolin Callies (2015), fünf sinne & nur ein
besteckkasten. Gedichte. Schöffling & Co., 111 Seiten, Hardcover mit
Schutzumschlag, 18,95 € (D), ISBN: 978-3-89561-448-4