Wiederveröffentlicht: Eine Gemeinschaftsrezension mit Sigune Schnabel zu Karin Flörsheim

 (NACHTRAG: Inzwischen ist die Plattform fixpoetry als Gründen mangelnder Finanzierung offline gegangen; die dort ursprünglich im Juli 2017 veröffentlichte Rezension wird deshalb hier im Beitrag eingefügt)



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Zwei Rezensenten / eine Meinung - Der neue Gedichtband von Karin Flörsheim: „Das Lied der Amsel vermisse ich sehr“

Karin Flörsheim hat einen Lyrikband vorgelegt, der jenseits des postmodernes Diskurses eine bemerkenswerte poetische Kraft entfaltet, besonders spürbar mit Blick auf den biographischen Kontext der Autorin. Zu dieser gemeinsamen Einschätzung kommen Sigune Schnabel und Matthias Rürup in einer aus zwei –dialogisch aufeinander bezogenen– Teilen bestehenden Rezension.

Teil 1 (Matthias Rürup):

Mit der Rezension von Gedichtbänden habe ich mich im letzten Jahr nicht nur aus Zeitgründen schwer getan: die durch verschiedene Debatten und Projekte auf Fixpoetry angedeutete hohe Anspruchshaltung an potentielle Rezensenten, dass sie dem aktuellen Lyrik-Diskurs analytisch und begrifflich eng verbunden zu sein hätten, hat mich eher abgehalten. Wohl auch weil ich mich mit dem aktuellen Lyrik-Diskurs eher schwer tue (inhaltlich und gestisch). Hinzu kam, dass ich meine Rezensionen bisher als eigene Vergewisserung anhand der Texte der anderen angelegt hatte, in der Hoffnung nicht zuletzt, dass dieser reflexiv das eigene Geschmacksurteil erörternde Ansatz auch ansonsten willkommen sei. Dieses eigene Vergewisserungsanliegen war mir aber in letzter Zeit irgendwie abhandengekommen. Von dem, was ich las, ging mir zu wenig nahe – und so schien es mir zunehmend retardierend und wenig konstruktiv, erneut zu erläutern, warum ich diesen oder jenen Lyrikband nicht mag.

Insofern war ich sofort von der Idee angetan, beglückt geradezu, mit dir – Sigune – zusammen eine Rezension zu verfassen: Als Gelegenheit aus der potentiellen Enge und Eingefahrenheit meiner Perspektive herauszukommen und vielleicht einen wieder produktiveren Zugang zur Tätigkeit des Rezensierens zu finden.

Und dankbar bin ich für deinen Vorschlag, uns gemeinsam an dem gerade im Geest-Verlag erschienenen Band von Karin Flörsheim "Das Lied der Amsel vermisse ich sehr" zu versuchen. Und noch etwas möchte ich gleich einleitend hervorheben – es führt unmittelbar zum thematischen Kern meiner Auseinandersetzung mit diesem Gedichtband: Ohne die Möglichkeit, der Buchvorstellung in Düsseldorf Anfang Juni persönlich beizuwohnen und die Autorin in ihrem eigenen Umfeld zu sehen, hätte ich womöglich auch zu diesem Gedichtband keinen Zugang gefunden. Allerdings nicht – wie bei den zuletzt rezensierten – aufgrund ihrer, ich sag mal pauschal-vereinfachend, Künstlichkeit. Bei dem Band von Karin Flörsheim hätte mich – ohne Autorenbegegnung – im Gegenteil das Übermaß an Echtheit frappiert, erkennbar am weitgehenden Verzicht auf literarische Verfremdung, Verschiebung oder auch Brechung der herangezogenen Wort- und Bildwelten.

Nun habe ich aber die Autorin gesehen: alt, klein und zart bis zur Zerbrechlichkeit und zugleich offensichtlich – trotz oder wegen des hohen Alters, der fortgeschrittenen Erblindung, der selbst ironisch kommentierten Vergesslichkeit – eine erfahrene, starke, widerspenstige und humorvoll-spröde Frau, die zurückblicken, die urteilen kann, die weiß, wovon sie redet, was sie tut und warum genau so.

Was mir angesichts der Person und ihrer Gedichte begegnete / entgegenblickte, war wohl, um es auf einen Begriff zu bringen, mein eigener postmoderner Zynismus: Man kann doch, so bin ich eigentlich und unausgesprochen überzeugt, heute-hier-jetzt nicht mehr einfach, direkt und klar "Frieden" oder "Frohsinn" als einzelnes Wort auf eine einzelne Verszeile setzen oder von „Mutter Erde“, von „Engeln“, der „Seele“ sprechen ... das glaubt doch keiner mehr, da empfindet doch niemand mehr etwas. Das ist doch nur Behauptung. Das ist leer!

Und trotzdem macht Karin Flörsheim genau das: verwendet sie in ihren Gedichten eine auf die basalen Hauptworte des Lebens reduzierte Sprache – mit einem sichtlich ungebrochenen, unironisierten Blick auf Natur (Sonne, Mond und Sterne) und romantisch-religiöse Symbolwelten. Diese Texte sind ernst, ein ernstes – geradlinig-unverstellt-gefühlvoll-ehrliches – Schauen … fast naiv erscheinend, wäre da nicht die Tiefe eines gelebten Lebens und des nahenden, schon fühlbaren eigenen Sterbens, das die Texte für mich immer wieder ergreifend und insistierend werden lässt – trotzdem oder gerade weil die überraschende Wendung, die besondere Idee des Textes manchmal ausbleibt oder nur klein ausfällt. Ein Beispiel zur Dokumentation (S. 119): Stunde um Stunde

Stunde um Stunde
 
entblättert sich
die Aster der Mohn
Aus dem Kalender
fallen die Tage

Ohne Duft
blühen rote Rosen
in den Vorgärten
der schönen Häuser
verblühen verwelken

Zu schnell flieht
der Sommer
in den Herbst
mit wenig Sonne
und viel Regen

In voller Blüte
hab ich ihn
noch nicht erlebt

Eines noch bevor ich dir, Sigune die Gelegenheit zur Entgegnung / Erwiderung überlassen möchte: Was mich bei der Präsentation des Gedichtbandes irritiert und dann mit einem AHA hat gehen lassen, war, dass mir die Vortragsweise der reihum von verschiedenen Lesern vorgestellten Gedichte (die Autorin selbst las nicht) ganz überwiegend nicht gefallen hat. Erst dein Vorlesen, Sigune, hat mir die Gedichte nahe gehen lassen – weil du, wie mir auffiel, dich wirklich mit Pausen an die Zeilenumbrüche gehalten und die Worte reduziert, ohne Pathos gelesen hast. Da – erst da – begannen für mich die Verse stark zu sein: wenn das eigentlich Erwartbare, dass der Herbst auf den Sommer folgt, dass er weniger Sonne hat und viel mehr Regen, immer von einem Einhalten, einem möglichen Überdenken und Abweichen – einer Hoffnung auf eine andere Aussage und Lösung begleitet wird, die dann eben genau durch das Übliche – die Regel – enttäuscht wird. Oder wenn, ganz im Sinne eines lauten Denkens / Abwägens, plötzlich eine so einfache, so entschiedene Offenbarung kommt, dass sie gerade wegen dieser plötzlichen Direktheit, die ich mir in meinen Texten wahrscheinlich gar nicht trauen, sie mir nicht erlauben würde, überrascht und überzeugt. Auch hierzu noch einmal ein illustrierendes Textbeispiel (S. 78):

Weit entfernt

Weit entfernt von
dieser Welt
zurückgezogen
auch die alten Freunde
aus Alter und
Gebrechlichkeit

Ein Schatten nur
im Weltgeschehen
bin ich im Alter nun

Hände habe ich
und Herz
Mit aller Kraft
sorge ich nun
für meinen Liebsten

Mein Leben gehört ganz ihm


Teil 2 (Sigune Schnabel)

Zunächst unterscheidet uns – wie wir schon festgestellt haben – unsere Herangehensweise an ein solches Projekt. Dich zeichnet vor allem eine wissenschaftliche Perspektive aus; ich gehe vielmehr vom persönlichen Empfinden, vom Lesen als Erlebnis aus. Zwar verfolge ich auch den aktuellen Lyrikdiskurs. Versuche wie beispielsweise die Bewertung von Gedichten auf Grundlage der am häufigsten in der Lyrik vorkommenden Begriffe (siehe: https://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritiken/david-krause/gedicht-aus-die-umschreibung-des-flusses, inzwischen leider offline) wirken dagegen eher befremdlich auf mich. Dennoch möchte ich hier dieses Modell erwähnen, da du – ohne den Text von Clemens Schittko als Ausgangsbasis zu nehmen – eine ähnliche Beobachtung machst. Nimmt man nun das von dir als erstes zitierte Gedicht, findet man sechs der häufigsten Substantive wieder (Tage, Rosen, Häuser, Sonne, Regen, Blüte). Und doch reicht, wie du selbst bereits angemerkt hast, eine solche Betrachtungsweise nicht aus. Im Fall von Karin Flörsheim entstehen eben nicht bloße Behauptungen oder eine träumerische Weltflucht, da die starke Glaubhaftigkeit und die große Lebenserfahrung einen Gegenpol dazu bilden.

Um also auf deine Frage zurückzukommen, ob Worte wie „Frieden“ oder „Frohsinn“ in der heutigen Zeit noch ohne ironische Brechung verwendet werden können: Ich denke, es geht nicht um einzelne Worte, sondern um das, was der Leser – heute, im Kontext des Textes – dabei empfindet. Und ich als Leser empfinde dabei etwas. In meinen Augen lässt sich der Wert eines Textes nicht an seinen Neologismen messen. Viel wichtiger ist es meiner Ansicht nach, wie die Elemente zueinander in Beziehung stehen und welche Assoziationen und Gefühle dabei ausgelöst werden. Auch die außersprachliche Wirklichkeit spielt, wie deine eigene Erfahrung zeigt, eine Rolle. So lässt sich deine Frage nicht pauschal für die gesamte Leserschaft beantworten. Wer das postmoderne Spiel sucht, ist hier falsch; wer aber schlichte Schönheit bevorzugt und im Angesicht der eigenen Vergänglichkeit Trost sucht, findet in diesen Zeilen gewiss einen persönlichen Gewinn. Ich stoße jedenfalls immer wieder auf Textstellen, deren Bildhaftigkeit mich innehalten lässt: „Schwarze Tropfen / fallen in meinen / Gedanken-Silberfluss / färben ihn Grau / das Silber läutet nicht“ oder „Dein Herz regnete / scharlachrote / Tropen in den / Mund des Mohns / auf den Feldern / wächst er für dich“. Gewiss, es ist eine weibliche Form der Lyrik. Vielleicht empfindest du als Mann ganz anders, wenn du solche Zeilen liest.

Auch mir geht es immer wieder so, dass ich auf Lesungen einen besseren Zugang zu den Texten finde. So wurde mir der Schmerz des Abschieds, der unvermeidlich mit dem Alterungsprozess verbunden ist, in den Bildern und Masken der Autorin überaus deutlich. Eines dieser Bilder ist auf S. 79 zu sehen, doch ohne die Teilnahme an der Lesung hätte ich es vermutlich nicht in seiner ganzen Tiefe begriffen.

In dieser Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Seins findet oft ein Zweifeln statt („Mein Feuer / […] Wird es weiter brennen / in der Ewigkeit / des Firmaments?“, S. 65), aber auch eine Hinkehrung zum jüdischen Glauben, dem die Funktion des Trostspendens zukommt. Insgesamt spielt die jüdische Tradition eine große Rolle in Karin Flörsheims Lyrik. Das Gedicht auf S. 155 illustriert vielleicht am besten den historischen Kontext, in dem sich die Autorin befindet:

Erinnerung

Am Morgen
am Abend
erinnere ich mich
schwarze Milch
die sie tranken
am Morgen und
am Abend

Mein Herz zieht
Feuer brennt
in meiner Seele
trink ich
rote Milch
am Abend

Bedanke mich
dass mich das
Schicksal verschonte

Der Bezug auf Celans Todesfuge wird hier überdeutlich. Die Milch ist nicht mehr schwarz, sondern rot, und das Gedicht zugleich eine Danksagung an das Überleben.
So haben hier in meinen Augen Substantive wie z. B. „Herz“ eine tiefe Verwurzelung im eigenen Dasein.
Mir drängte sich beim Lesen noch eine andere Frage auf: Wie schreibt eine nahezu erblindete Autorin noch Gedichte? Wie findet die Überarbeitung statt? Oder entstehen die Texte sozusagen aus einem spontanen Guss? Für mich als eine Lyrikerin, die viel an Texten feilt und immer wieder auf die letzte geschriebene Fassung zurückgreift, um daraus noch etwas Besseres zu machen, ist eine solche Arbeitsweise mit einer Vorstellung von Mühseligkeit verbunden, aber auch von besonderer Wachheit und Konzentration, denn gewiss müssen viele Schritte bereits im Kopf stattfinden, vielleicht sogar der ganze Entstehungsprozess, der bei mir eine langsame Arbeit auf dem Papier ist. Zumindest ansatzweise gibt das letzte Gedicht des Bandes Antwort auf diese Fragen:

Gedanken

Gedanken gleichen
einem tiefen See
mit Vergangenheit

Worte
sprießen wachsen
wie Seegras
wie Algen
und wollen ans Licht

Meine Gedanken
verankere ich
in Wortketten
lass sie ruhen
lass sie wachsen

Später binde ich sie
fest an das Papier

Karin Flörsheim: Das Lied der Amsel vermisse ich sehr. Gedichte 2014 – 2016. Mit Bildern der Autorin. Vechta: Geest-Verlag, 2017. ISBN: 978-3-86685-615-8, 163 Seiten, 12,00 €

Wiederveröffentlicht: Rezension zu Ines Geipel und Joachim Walther "Gesperrte Ablage"

 (NACHTRAG: Inzwischen ist die Plattform fixpoetry als Gründen mangelnder Finanzierung offline gegangen; die dort ursprünglich im Februar 2016 veröffentlichte Rezension wird deshalb hier im Beitrag eingefügt)





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Falsche Leben

Ines Geipel und Joachim Walther berichten über in der DDR verbotene und verkrüppelte literarische Stimmen

Es ist eine erschreckende Sammlung, die Ines Geipel und Joachim Walther hier vorlegen: an die hundert Einzelschicksale aus vierzig Jahren DDR, die eines gemeinsam haben – ihre literarischen Ambitionen wurden in der DDR und durch die DDR (ihre Staatsorgane) verfolgt, beschnitten, bestraft und gar nicht selten abgewürgt / getötet. 430 Seiten hat dieses im strengen Sinne quälende Buch. Der geschichtlichen Detaildarstellung voran stehen zwei Essays der beiden Autoren. Ines Geipel ordnet anlässlich einer neuerlichen Verfilmung den Roman „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz als verlogenen, geschichtsklitternden Buchenwald-Mythos ein, der die Verbrechen der KPD-Kapos und späteren DDR-Funktionäre übertünchen sollte und Joachim Walther äußert sich zusammenfassend zum Programm des Archivs unterdrückter Literatur der DDR, das er und Geipel seit 2001 zusammengetragen haben. Dann folgt auf ca. 270 Seiten eine Chronik des Schreckens: eine Darstellung des andauernden Verfolgungswahns und der Unbarmherzigkeit des DDR-Regimes gegenüber stärker abweichenden, hinterfragenden oder den vorgegebenen realistisch-sozialistischen Rahmen verlassenden Autorinnen und Autoren. Konzentriert auf konkrete Schickale einzelner Personen oder lokaler Literaturgruppen durchschreitet die Darstellung neben der Nachkriegszeit alle vier Jahrzehnte der DDR. Ines Geipel schildet dabei die ersten zwanzig bzw. fünfundzwanzig Jahre bis zum Ende der 1960er Jahre, Joachim Walther dann die Jahre von 1970 bis 1989. Was dabei deutlich und insbesondere von Joachim Walther auch explizit so ausgesagt wird, ist, dass die engmaschige und engherzige staatliche Verfolgung unpassender literarischer Stimmen nicht nur ein Phänomen der stalinistischen Anfangsjahre war, sondern sich bis in die Endphase des zweiten deutschen Staates durchzog. Verändert haben sich – tendenziell – die staatlichen Anlässe und Formen der Intervention sowie die Härte der Bestrafung, wenngleich der Grundtatbestand der politischen Verfolgung und der staatlichen – insbesondere geheimdienstlichen – Willkür uneingeschränkt erhalten blieb. Am Ende des Bandes findet sich neben einem Personenregister und einem Literaturverzeichnis, das vor allem die ebenfalls von Geipel und Walther bei der Büchergilde Gutenberg herausgegebenen Bände der Verschwiegenen Bibliothek aufführt, eine Gesamtaufstellung der im Archiv unterdrückter Literatur in der DDR erfassten Autorinnen und Autoren mit ihren Biographien, den im Archiv einsehbaren Texten  und ihren sonstigen Veröffentlichungen.

Die Art der Darstellung und das Anliegen des Bandes verbieten geradezu eine weitergehende Kommentierung und Einordnung. Persönliche Schicksale sind gerade wenn es sich um Leidensgeschichten handelt, per se und eingeschränkt schrecklich, unzumutbar: ein Skandal. Ihre Sammlung als sich – strukturell ähnlich – immer wieder wiederholende Ereignisse verweist auf menschenverachtende Muster, gewalttätige Routinen oder sogar verbrecherische Strukturen, die die DDR prägten. Ob und wie verallgemeinerbar, gesetzmäßig und unabwendbar, nicht nur an bestimmte historische Konstellationen und Personen gebunden, diese brutale, zerstörerische staatliche Praxis zu nennen ist, dass können Einzelfälle allerdings nicht aufklären. Auch wenn das Urteil der beiden Autoren des Bandes eindeutig ist: Für sie bedeuten all die sichtlich zerstörten Leben den moralischen Bankrott des gesamten sozialistischen bzw. kommunistischen Projekts.

Insbesondere Joachim Walther ist bei dieser Verurteilung ausgesprochen scharf und deutlich. Sie ist in seiner Nacherzählung der Unterdrückungsgeschichte literarischer Stimmen seit den 1970er Jahren ständig präsent als mitlaufender und sich steigernder Kommentar. Genau dies schwächt aber auch die Darstellung – Walther deutet viel stärker als zu zeigen. Er hat, dass wird deutlich, von vornherein eine Position und muss diese, so als würde er den Fallgeschichten und dem Urteil der Leserinnen und Leser nicht völlig vertrauen, immer wieder erklärend und zusammenfassend einbringen.

Ganz anders als Ines Geipel, die in ihrer Schilderung der ersten zwanzig DDR-Jahre sprichwörtlich gefangennehmende Lebensgeschichten arrangiert und vorführt: das Leiden, die Verkrüppelung nicht nur benennt und faktenmäßig aufführt, sondern in geradezu lyrisch zu nennenden Wortkaskaden als tragisches Schicksal greifbar macht, das man niemanden, wirklich niemanden wünschen würde. Das ist stellenweise suggestiv und – insbesondere was das Argumentieren mit rhetorischen Fragen angeht – manchmal auch manipulativ (nicht mehr wissenschaftlich neutral): aber im Sinne des sichtlich verfolgten Ziels – betroffen zu machen, das DDR-Regime anzuklagen, es zu verdammen – auf jeden Fall effektiver.

Dabei gelingt es Geipel auch, dem Leser kräftige Eindrücke davon zu vermitteln, das hier immer wieder besondere literarischen Stimmen kaputt gemacht wurden – ihre Eigentümlichkeit und Individualität zu betonen, so dass ihr staatlich verursachtes Verkümmern als Verlust nachfühlbar wird. Walther hingegen interessiert sich – zumindest erweckt seine Darstellung den Eindruck – eher für die politische Positionierung, den Dissidentenstatus der verfolgten Autorinnen und Autoren und weniger für ihre eigentümliche (zerbrochene, verhinderte) literarische Stimme. Statt emphatisch zu schildern, bemüht er lediglich Autorenreferenzen oder eigene (analytische) Wertungen, dass Gabrielle Stötzer beispielsweise viel emanzipierter und feministischer sei als Christa Wolf. Oder er referiert über Inhalte und Themen (z.B. seitenlang über die Einzeltitel und Einzelteile des Fragmentromans von Thomas Körner), statt – wie Geipel – den eigentümlichen Ton, die Poetologie der Autorinnen und Autoren herauszuarbeiten. So fällt es teilweise schwer eine innere Beziehung zu den von Walther dargestellten Literaten herzustellen (also ihre besondere Tragik mitzufüllen, nicht nur die Tragik und Verwerflichkeit jeglicher politischen Verfolgung) – insbesondere wenn die exemplarisch abgedruckten Texte entweder wenig zugänglich /spröde daher kommen (wie zum Bespiel im Fall von Thomas Körner) oder literarisch nicht recht überzeugen. Merkbar wird dies, wenn die widergegebenen Autorentexte einmal auch für sich stehen können (aus sich selbst heraus Kraft haben), wie im Falle der Gedichte von Radjo Monk.

Insofern fallen die beiden jeweils von Geipel und Walther verfasste Textteile deutlich auseinander: gibt es – stereotypisierend gesprochen – eine eher weibliche und männliche Seite der Geschichtsdarstellung, die man sich alles in allem stärker verbunden, weniger kontrastierend gewünscht hätte. Unabhängig davon ist das Buch zu würdigen als eine fordernde – insistierende, bisweilen etwas inquisitorische – Lektüre (insbesondere wenn es, wie den Rezensenten, zur Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft und den zum Glück nicht mehr erlebten Verfolgung einlädt). Man kann, das ist Verdienst dieses Bandes als auch des dahinter stehenden langjährigen Forschungsprojekts, nun nicht mehr nicht wissen, wie schlimm, wie eng es war und werden konnte in der DDR gerade für Menschen, die sich zum literarischen Schreiben gerufen fühlen.

Ines Geipel / Joachim Walther (2015). Gesperrte Ablage. Unterdrückte Literaturgeschichte in Ostdeutschland 1945 – 1989. Düsseldorf: Lilienfeld Verlag. 430 S., ISBN 978-3-940357-50-2, 24,90 €.

Wiederveröffentlicht: Rezension zu Carolin Callies

 (NACHTRAG: Inzwischen ist die Plattform fixpoetry als Gründen mangelnder Finanzierung offline gegangen; die dort ursprünglich im Mai 2015 veröffentlichte Rezension wird deshalb hier im Beitrag eingefügt)


Anspruchsvoll/störend: Carolin Callies‘ Phänonomenologie der Sinne

Gedichte müssen nicht gefallen, sie sollten bewegen! Das sagt sich so leicht, wenn es um Emotion, Gedanken, um Geschichte geht. Aber wie ist es mit Spucke, Schweiß, Urin und sonstigem Glibber?

Wie gut, dass es auch andere Stimmen geben wird. Auf dass dem Lyrik-Debutband von Carolin Callies viel gradliniger, gehäufter und uneingeschränkter ein wohlwollende Aufnahme zukommen kann, als mir möglich ist. Denn eigentlich ist gar nichts auszusetzen: sowohl was die Dichte der Gedanken und Beobachtungen angeht, die Klangtiefe und -vielfalt der Verse (der Humor, der Ernst, die Selbstironie) als auch bezogen auf den  Anregungs- und Überraschungsreichtum der Sprache, immer dem eigentlichen, dem untergründigem, einem alten Wort-laut nachspürend. Da könnte ich sogar von „begeisternd“ sprechen.

Und doch: bis zum Gefallen reicht es nicht. Das wird wohl, so ungern ich es hier zugebe, eher an mir und meiner Fähigkeit, meinem Willen liegen, mich so sehr auf die Texte einzulassen, wie sie es brauchen und verdienen. Das zeigte sich mir schon beim ersten, dem programmatisch vorangestellten Text: „der körper ist ein geschichtenband“ … ein anregend-gehaltvoller Titel, raum- und gedankenöffnend. Auch die ersten zwei Zeilen der ersten Strophe kommen mir noch ähnlich willkommen heißend, als Handreichung und Einladung in eine Gedankenwelt entgegen:

hier liegt ein punkt, von dem gehen fünf finger los / & kehren nur noch drei zurück.

Bildlich war ich da angekommen beim Blick auf meine offene Handfläche und grübelnd darüber, , welches Symbol sich dadurch auszeichnet, zwei Finger ausgestreckt zu lassen (die Pistole, der AC/DC-Teufel mit eingeklappten Daumen, nicht: der Zeigefinder, nicht: der Fuck-You-Mittelfinger). Angeregt war ich zu einem Themenkreis des Verlorengehens (der Heimkehr der Verbliebenen – Überlebenden oder Gescheiterten), um dann in den nächsten zwei Zeilen allein gelassen, vor den Kopf gestoßen zu werden:

was allseits vom fuß in den magen geriet: / wir erzählen‘s im ziehn von tentakeln

Nicht die Bilder selbst waren es, die mich verwirrten (das etwas – unabhängig vom allseits – vom Fuß in den Magen geraten könnte, vermag ich mir vorzustellen,  ebenso das Ziehen von Tintenfischtentakeln), sondern das machte der Eindruck, dass mich der Text hier bewusst als Leser fallen lässt; er sich bewusst einer konsistenten, aufeinander aufbauenden, im Sinne eines Kameraschwenks verbundenen Bilderwelt verweigert. Ich sollte, so trat mir das Gedicht plötzlich gegenüber, mich schwertun, mich verlieren in Rätselworten und -collagen. Bewusst, so schien mir dann auch beim weiteren Lesen im Gedichtband, wollen Callies‘ Gedichte nicht einfach sein. Sie wollen erarbeitet werden oder anders: akzeptiert hermetisch bleiben … ein Geheimnis bewahren, eine eigene, sich erst spät oder gar nicht auftuende, Metaphernwelt seltsamer Beutel. Denn noch weiter ging es (zweite Strophe und abschließend, dritte Strophe):

& erzählen vom schweiß als vollem gefäß, / vom rausbrechen der fußstücke als leichtester übung./ wir trocknen die haut am stück / & hängen sie in beuteln auf, erzählen wir’s also in beuteln//

& wo landen die beutel, auf den abort geraten? / in der tonne, in ‘nem becher oder einem spucknapf gar? / in buchattrappen, vollen kehlen? Wir haun darauf. / im losen, glaub’s mir, hörn die geschichten tentakelärmlig auf.//

Persönliche Bekenntnisse mögen zwar in einer Rezension nicht recht passen, aber zur Erklärung meiner Schwierigkeiten mit Callies‘ Texten scheint es unerlässlich: Ich tue mich immer schwer damit, Bilder körperlicher Verstümmelung oder Versehrung (Folter, Krankheit, Tod) an mich heran, in mich hineinzulassen. Sei es in Filmen, in Büchern oder in Nachrichtensendungen – oder eben nun bei Callies (Rausbrechen von Fußstücken, der Körper als leerer oder schweißvoller Beutel, zerplatzend). Dass hier abgedruckte Eingangsgedichts ist noch ein eher schwaches Beispiel. Andere Gedichte sind wesentlich eindringlicher, konkreter in der Fassbarmachung von einem (normalen, alltäglichen, allgegenwärtigen) Siechtum. Damit kein falsches Verständnis aufkommt: Die kranken, die hässlichen Seiten der leiblichen Existenz sind keineswegs das Hauptthema oder der Grundtenor des Gedichtsammlung von Carolin Callies. Gegenständlich geht es „einfach“ um die normale klebrig-feuchte, geruchshaltige, sinnlich konkret erlebbar Seite der Existenz. Das steht schon im Titel des Buches „fünf sinne & nur ein besteckkasten“, der zugleich eine Inhaltsangabe über das Buch mit seinem sechs Kapiteln ist, in denen, soweit es sich klar voneinander abgrenzen lässt, das Riechen, Schmecken, Sehen, der Tast- und der Orientierungssinn und schließlich das Nachdenken darüber (sortierend) „verhandelt“ werden. Insofern steht ja schon auf dem Buch, was darin ist … nur wie nahegehend, wie herausfordernd und konfrontativ dies meine eigene (unbewusst-impulshafte, verdrängte?) Körperfeindlichkeit tangiert, das war nicht vorauszusehen.

Kurz gesagt: Callies legt mit ihrem Debut-Band eine Sammlung sprachlich-ästhetisch ansprechender, gehaltvoll durchgearbeiteter, bewusst schwieriger Gedichte vor, die mir (!) wegen ihrem mich (!) provozierend-verstörenden Gehalt nicht gefallen können, die ich (!) ungern an mich heran, ungern in mich (!) hinein lasse … aber gerade das macht sie (meine Widerstände reflektierend) auch besonders und empfehlenswert, verleiht ihnen Schärfe und persönliche Brisanz.

Carolin Callies (2015), fünf sinne & nur ein besteckkasten. Gedichte. Schöffling & Co., 111 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, 18,95 € (D), ISBN: 978-3-89561-448-4