Ich kann auch Rezensionen!

Frisch gelesen und besprochen habe ich den ersten Gedichtband "Prokrastiniert Euch" von Marcel Maas, der im Jahr 2012 Förderpreisträger des Landes NRW für junge Autorinnen und Autoren war und mit seinem Prosa-Erstling "Play. Repeat: Ein Prosa-Set" (2012) einige Aufmerksamkeit erntete.

Nachzulesen ist die Rezension mit dem Titel "Das Ausbleiben der Revolution als Entscheidung" im Literaturportal fixpoetry: http://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritiken/marcel-maas/prokrastiniert-euch. (NACHTRAG: Inzwischen ist die Plattform fixpoetry als Gründen mangelnder Finanzierung offline gegangen; die dort ursürnglich veröffentlichte Rezension wird deshalb hier im Beitrag eingefügt)

Hier noch ein Link zum Buch und zur Leseprobe bei der Frankfurter Verlagsanstalt: http://cms.frankfurter-verlagsanstalt.de/fva.php?page&p=DE,25742 



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Das Ausbleiben der Revolution als Entscheidung – Gedichte von Marcel Maas

Zuerst einmal und allen anderen Einschätzungen vorweg:  Der Titel dieses ersten Gedichtbandes von Marcel Maas ist großartig! „Prokrastiniert Euch“, das ist ein Imperativ voller Versprechungen, Andeutungen und Irritationen, Assoziationen weckend und zerbrechend zugleich.
Einerseits verweist dieser Titel auf einen Willen zur Aktualität. Schließlich hat die Krankheit der „Aufschieberitis“ die akademischen Kreise unserer Gesellschaft neuerdings seuchenartig im Griff, nimmt man die Anzahl Abhilfe versprechender Kurs- und Beratungsangebote an Universitäten und im Internet zum Indikator. Andererseits spielt der Ausruf „Prokrastiniert euch“ mit Traditionen der Verkündigung neuer gesellschaftlicher Bewegungen; insbesondere der kommunistische Weckruf klingt an, dass aller Proletarier sich vereinigen mögen. Wenngleich – natürlich –  es wenig braucht, um den Ausruf als postmoderne Ironisierung solcher Weltbeglückungshoffnungen zu dechiffrieren. Empfiehlt der Buchtitel wörtlich genommen doch nichts anderes als: „Wählt die Krankheit!“, „Negiert die Erwartungen“, „Verbaselt die Zeit“, „Seid dysfunktional, seid dekadent!“ Geradezu ins Absurde verkehrt sind so die assoziativ angerufenen Utopien auf irgendeine produktiv-zielgerichtet angestrebte Erlösung.
Kurz: ein Buch diesen Titels, ein Gedichtband allzumal, verdient Beachtung – noch dazu, wenn es sich um das Werk eines jungen Autoren handelt, 2012 mit dem Förderpreis des Landes NRW geehrt, dem als Repräsentanten der nachkommenden Generation jedes Recht zuzugestehen ist, das Alte – das Vorherige zu Brechen und zu Verhöhnen. (Sei hier auch aus aktuellem Anlass eingeschoben und daran erinnert, dass diese Generation jüngst – durch ein streitbares Pamphlet eines eigenen Vertreters – in den Verdacht geraten ist, nichts zu sein als eine satte, gehoben-mittelständische Erbengeneration mit Schriftstellerzertifikat)
Nun – angesichts dieser überhohen persönlichen Erwartung des Rezensenten kann, nein, muss der Gedichtband nur scheitern. Aber von Lyrik, moderner Lyrik insbesondere, ein welterlösendes Traktat zu erwarten, dass wäre sowieso verspannt und überzogen. Und schließlich: Schon mit seiner Widmung entzieht sich Marcel Maas dem möglichen boshaft-überkritischen Zugriff. Gerade nicht an irgendeine, erlöste oder zu erlösende Menge Gleichgesinnter richtet sich sein anfänglicher Gruß, sondern an die eigenen Eltern. Die im Titel angedeutete Revolutionsstimmung und Generationenkonfrontation endet so schon mit dem Aufschlagen des vorzüglich gestalteten, mit drei abstrakten Bildern von Jan Paul Evers bereicherten und mit einem Schutzumschlag versehenen Hardcover-Bandes. Statt einer neuen Massenbewegung gibt es zuallererst einen Rückruf nach Haus.
Der Gedichtband besteht aus ca. 58 Texten in drei Teilen geordnet, die sich relativ leicht als zeitliche Abfolge von (1) Vergangenheit: Kindheit und Jugend, (2) Gegenwart: Studium und Jung-Autorentum und (3) Zukunft: Lebensplanung und Vision dechiffrieren lassen.
Der sich erinnernde – auf Kindheit und Elternhaus – verweisende erste Textteil trägt den Titel „Rüsten zur Jagd“, wobei unklar bzw. doppeldeutig bleibt, ob das lyrische Ich sich in seiner Jugend eher als sich vorbereitender Jäger oder bald Gejagter (aktiv oder passiv) imaginiert. Der erste Text (rotwild ein komplementär) legt zumindest die zweite Auslegung nahe ...
Alles in allem dominiert ein poetisch sehr verdichteter, sprachlich geschmeidiger, traurig-verletzter und dennoch nüchtern-distanzierter Ton. Die 18 Gedichte dieses ersten Teils geben Kunde von einem hoch empfindsamen, leidenden Ich in einer eigentlich wohlgeordneten Mittelstandswelt ohne echter Katastrophe mit einem (auswärtig) weltweit tätigen Vater, stereotyp-häuslicher Mutter und cliquenhafter Einfamilienhausnachbarschaft. Lediglich die wiederkehrende Metapher eines „weidwunden gläubiges Hand“ (S. 9, S. 13) oder wiederkehrender angedeuteter Wohnungsumzüge (S. 15, 30) verweisen irgendwie auf externe, alles infrage stellende Bedrohungen. Das lyrische Ich erscheint eher melancholisch-verletzt durch hässliche Details des eigenen bürgerlichen Wohlstands, von denen Essens- und Grillreste bzw. vollgeaschte Planschbecken noch am greifbarsten sind. Mädchen tauchen auf, teils als tontaubenschießende Feriengäste, teils im fälschlich hellblauen Badeanzug – sie werden beobachtet und umworben, bleiben aber namenlos und fremd.
Bemerkenswert ist schließlich an diesem ersten Teil das fortgesetzte (wiederkehrende) Schwanken zwischen einer zunehmend zurückgelassenen mütterlich-adligen Bilderwelt-Herkunft mit Ahnentafel, Schloss und Jagd und einer immer detailreicher werdenden technisch-faszinierenden und zugleich befremdenden, wälderrodenden väterlichen Praxis des Pipeline-Bauens. Als Summe der Kindheit und Jugend bleibt vor allem Leere, wie sich zum Schluss des Schlussgedichts des ersten Text Teils lesen lässt (evakuierung und bestand, III, S. 29):

die behälter mit knoten gefüllt
schlafen wir verbreitet die auslage
und vater spaltet das holz
wenn wir einen winter verkünden

die front an der wir liegen und von draußen
schaut der feind in bettkästen rein
die mäntel des bruders bewegen im wind

und den zufälligen beginn des morgens
durchbluten die scheite wir nagen
und bedeuten mit hellen vogelaugen
Die leer geschriebenen kalender

Der zweite Teil des Gedichtbandes, der nach Interpretation des Rezensenten, so etwas wie die Gegenwart bzw. den geraden verstrichene Lebensabschnitt des imaginierten lyrischen Ichs beschreibt, steht unter dem – ebenfalls auf Gegenwärtigkeit verweisenden – Titel: „ ein guter bekannter ist gerade keiner community beigetreten“.
Formell, thematisch und sprachlich ist der zweite Teil vielgestaltiger, wüster und vor allem, was die Position des lyrischen Ichs angeht, aktiver. Schon der erste Vers des ersten – mit römisch eins betitelten – Gedichts formuliert diesen Bruch und Neubeginn programmatisch: „dieses gedicht setzt einen herrscher ein“ – und setzt fort mit (dem irgendwie üblichen) jugendlich-jungerwachsenen Widerspruch zwischen radikaler Verneinung der christlich-bürgerlichen Wertewelt der Eltern („cancel die auferstehung,/cancel alles andere.“) und der Akzeptanz der monetären Abhängigkeit („erhalte den bonus./betreue die banken.“).
Ohne große poetische Verrätselung bewegt sich das lyrische Ich in diesem zweiten Teil des Gedichtbandes wabernd zwischen heftigem Drogen- (?), Computerspiel- und Fernsehkonsum, rauschhaft-unerfüllten Liebschaften (Dascha?), (Auslands-)Reisen und vertändeltem Inlands-Autorenstudium. Zumindest beim letzten Aspekt zeigt sich eine große Nähe zwischen dem lyrischen Ich und seinem Urheber, Marcel Maas, der zu der anwachsende Riege von Absolventen der Hildesheimer Schreibschule zählt.
Sich in den Gedichten und Themen dieses zweiten Teils überblickartig zu recht zu finden, fällt auch deswegen schwer, weil der Autor einerseits auf Überschriften verzichtet – so dass ein neuer Text nur an der neuen Seite und der neuen Bildwelt erkennbar wird (es scheint sich hier um 12 Texte zu handeln); andererseits einige Gedichte römisch durchnummeriert (von I bis XII) und wieder andere Texte mit einer Überschrift (3 Texte, ein weiterer trägt eine römische Nummer und eine fett gedruckte Überschrift) oder mit dem Signum „B“ (2 Texte) versieht – und alles dies munter miteinander mischt. Schließlich gibt es ein titelloses Prosagedicht, das anders als alle anderen layouterisch rechtbündig unten auf der Seite platziert ist.
Insofern hinterlässt der zweite Teil des Gedichtbandes bei den Rezensenten vor allem einen experimentierend-experimentellen Eindruck, thematisch einer mit Suchen befassten und verstreichenden Zeit. Dies repräsentierend sei hier das titellose Gedicht von Seite 62 wiedergegeben:

vor mittag schon
konnten wir uns wichtigerem zuwenden

wie sehr uns das original unterscheidet.

das horn an der wand war aus schweiß,

die einfuhr gewisser informationen gefahr.

das spiel aus nichts erzielte
abseits der märkte
geistige abfindung.

vor mittag schon
versiegten unsere argumente. fliehe dich fliehe wieder.
zeitreisende.
wir verbrachten den rest damit,
das internet zu nutzen, das planmäßig auslief.

Und dann gibt es den dritten Teil des Gedichtbandes, überschrieben mit „Parade und Parcours“ und plötzlich wieder klar geordnet, ein geschlossenes und hymnisch vorgetragenes Ganzes aus mit Kapitälchen von EINS bis ZEHN benannten Abschnitten, bei denen nun auch auf Satzzeichen, Großschreibung von Satzanfängen und Substantiven geachtet wird.
Durchgängig im Imperativ an eine Einzelperson verfasst und bestimmte Verszeilen und Metaphern beständig wiederholend und variierend, wird so etwas wie ein Lebensprogramm für einen angehenden Revoluzzer entworfen: es Es gelte nun im Heu zu warten („was kommt ist die Bereitschaft“), Liebhaber zu sein („Nimm dir vor, eine Frau zu haben.“) und sich zu beschäftigen mit Scheune, Faden, Hammer, Nagel, Halstuch und Stock (= Fahne) in dem eigenen – besetzt-staatenlosen – Land, Zeichen zu geben und von anderen zu empfangen, geheimbündlerisch-geheimnisvoll an einem Buch / einem Projekt des Schleusen-Öffnens mitzuwirken, in die Verfolgung zu gehen, umherzuirren, vielleicht sogar Verräter zu sein („blätter die Namen ab, sag einer sei aus.“) – und danach das Ganze zu wiederholen, mit Frau und Land und Scheune.
Was an den einzelnen Bildern und Figuren, für welche Idee und Tätigkeit genau steht, bleibt ehrlich gesagt unklar – zumindest scheint es den Autoren, weniger um ein bäuerlich-selbstgenügsames Verschwörerleben in einem Niemandsland zu gehen, sondern um eine Zukunft als Literat – als vergeistigter Zeitgenosse („Nimm dir vor, in der Luft als Geist zu amtieren.“; „Sing, dass die Knochen verschwinden.“) und dem Wort zu dienen („O Kauderwelsch, Grube eines Sterns, […] O Kauderwelsch, Grube voller Schrammen. […] Reite die Taste aus Staub.“)
In diesem dritten hymnischen Teil findet schließlich auch der Titel des Gedichtbandes seinen textlichen Anker: „Prokrastinier dich“, ist die Aufforderung an den Scheunenbauer, sich mit mehr oder weniger nützlichen Tätigkeiten ein Land, ein ganzes Tal, zu eigen zu machen. Anders als am Titel oben gemutmaßt, geht es Marcel Maas also gar nicht um eine Kollektivbildung, sondern – nur (?) – um einen Lebensentwurf für Individuen. Anders auch als – vielleicht voreilig – vermutet, besteht das hier empfohlene Prokrastinieren auch keineswegs in einer reinen dekadenten Verweigerung jeglicher sinnvoller Arbeit, vielmehr werden dem lyrischen Gegenüber des Sprecher-Ichs umfangreichere, sogar strategisch-umstürzlerische Tätigkeiten oktroyiert, die mit dem Alltagswortsinn von Prokrastination eher wenig gemein haben. Es sei denn, die versteckte Botschaft dieser hymnischen Handlungsorientierungen im dritten Teil des Gedichtbandes soll sein, dass all diese pseudo-vorbereitenden und pseudo-revolutionären Handlungen nichts anderes sind als oberflächlich-austauschbare und beliebig wiederholbare Ablenkungen vom Eigentlichen. Dieses Eigentliche könnte ja dann das Dichten sein – wenn nicht das Dichten durch den Rezensenten schon mit dem Scheunenbauen und Scheunenfüllen (also dem Prokrastinieren) assoziiert worden wäre, so dass ihm nur bleibt, die beinahe letzten Verse des Gedichtbandes beinahe auch als sich zur Verrätselung bekennende Gesamtzusammenfassung des Gemeinten anzusehen:

O Kauderwelsch, Grube eines Sterns,
sei frei gegeben, sag es auf.
Die Absuche der Welt endet hier.
Rätsel unter dem Stein.

Zu erwähnen ist allerdings, dass nach diesen Zeilen noch ein kryptisches Quadrat von 4 x 4 Vieren abgedruckt ist, das vielleicht als Dechiffrier-Vorlage für einen noch geheimeren Sinn des Hymnus gemeint ist. Zumindest als symbolisches Inhaltsverzeichnis scheint es nicht zu taugen. Zwar könnte man die Erinnerungsgedichte an die Kindheit als thematisch in Viererblöcken wiederkehrend-fortentwickelte Bilder begreifen – allerdings geht das bei 18 Texten nicht wirklich auf. Außerdem hat der gesamte Band nur 58 Einzeltexte, wenn man die zehn Abschnitte im dritten Teil jeweils einzeln zählt. Insofern verzichtete der Rezensent auf eine letzte Klärung dieser mehrwürdigen Zahlenraute – und interpretiert sie achselzuckend als abschließenden Scherz des Autoren mit seiner Leserschaft.
Und wirklich abschließend dann auch, soll noch etwas zusammenfassend-einordnend Bewertendes gesagt werden: Wenn man den vorliegenden Band von Marcel Maas nicht nur als persönliche Zusammenstellung seiner bisher besten Gedichte betrachtet, die man ähnlich einem Schreiten über eine Blumenwiese durchaus genießerisch durchstreifen kann (der Band bietet durchaus schöne und geistreiche Formulierungen und Beobachtungen wie z.B. „//bei teilweise geschlossenen lidern / halten die wimpern staubteile fern / und keiner kanns sehen //“, S. 11), sondern als programmatische Positionierung eines jungen Lyrikers, der gerade kraftvoll nachrückenden Generation, so macht sich neben der Anerkenntnis einer handwerklichen Meisterschaft des extensiven Verknappens und Zusammenpressens von Sprache und Sinn in freien, variantenreichen Versen, eher Enttäuschung breit. Denn was außer Beherrschung des Sprachlich-Formellen der Dichter eigentlich zu sagen hatte (außer über seine Kindheit) – oder schlimmer noch, was seine Gedanken, Gefühle, Eindrücke, Erlebnisse, Hoffnungen und Visionen wirklich sind, bleibt nach der intensiven Durchsicht durch die Gedichte doch herzlich fremd. Die Verrätselungen und Mehrdeutigkeiten, mit denen Marcel Maas seine Texte durchzieht, wirken ambitioniert und bedeutungsvoll – und sind doch irgendwie leblos, zumindest in den Teilen 2 und 3. Verstärkt wird diese Enttäuschung schließlich noch dadurch, dass der als Programmentwurf deutbare Hymnus im dritten Teil, keine (meiner Ansicht nach) dichterisch dauerhaft produktive Perspektive enthält: Prokrastiniert soll werden (dahingelebt?), den Spinnen nachgeschaut (was zumindest noch für ein intensives Beobachten wollen spricht), aber wo es eigentlich um Leben/Lieben/Leidenschaft/Wahnsinn gehen müsste (woraus sonst erwächst denn Poesie), bleibt nur ein irgendwie blutleer-krampfhaftes, weder Fisch noch Fleisch seiendes „Nimm dir vor, den Kuss zu machen.“ (S. 77)
Vielleicht lehrt dieser Gedichtband so dann doch etwas für und über die nachwachsende Generation der studierten Autorinnen und Autoren Hildesheimer Provinzenz: Das Handwerk ist das eine – wenn aber erst einmal die Kindheit aufgearbeitet ist, besteht durchaus die Gefahr, sich themenlos-prokrastinierend im Literaturbetrieb zu verlieren. Ob diese Mutmaßung auch auf Marcel Maas zutrifft, um das einzuschätzen, dafür muss man allerdings auf einen nächsten Gedichtband warten. Jetzt liegt erst einmal ein diskussionswürdiger, anregend-anreizender Erstling vor, der vor allem bemerkenswerte Einblicke in eine irgendwie traurig-verlorene Kindheit in einer irgendwie wohlgeordneten Wohlstandswelt bietet.

Marcel Maas (2013): Prokrastiniert Euch. Gedichte. Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt, 89 Seiten, mehrere Illustrationen von Jan-Paul Evers, 17,90 €.