Ps.: Wer sich fragt, was der Rezensionstitel "Weimar, Weimar hopsasa" soll, der im Text ja selbst nicht aufgegriffen wird - dabei handelt es sich um eine Liedzeile von Hans-Eckardt Wenzel von seiner 1989er LP Reisebilder (Das Weimar-Lied). Wenzel hätte als Lyriker sicherlich ebenfalls in dem Band Aufnahme verdient, aber diese Thema wollte ich nicht auch noch aufreißen ... Genauer lauten die ersten Verse des Weimar-Liedes: "Weimar, Weimar hopsasa, ein Museum bist du ja, das ich stock beim Schreiten".
Weimar, Weimar hopsasa – Gesammelte Lyrik Thüringer Lokalitäten
Kann man lyrisch eine
Region thematisieren, ohne in die Nähe von romantisierend-provinzieller
Heimatdichtung zu geraten? Eine Lyrik-Anthologie versucht dies am Beispiel
Thüringens mit literarischen Anspruch und durchaus namhaften Autorinnen und
Autoren – und scheitert.
Fast schien es, als könne das Vorwort zum kürzlich im
Wartburg-Verlag erschienenen Lyriksammlung „Thüringen im Licht. Gedichte aus
fünfzig Jahren“ meine Bedenken zu solch einem Publikationsprojekt einfach ausräumen.
Thüringen, so formulieren die Herausgeber Ron Winkler und Nancy Hünger schließlich
einleitend gleich, sei (lediglich – so ergänzte ich für mich beim Lesen) eine
Behauptung, eine territoriale Hypothese (wie viele andere auch – fügte ich in
Gedanken hinzu), ein Splitterganzes, das – nach jahrhundertelanger
Kleinstaaterei und vierzig Jahren Teilung in drei DDR-Bezirke – heute nun mal (per
Setzung, Vereinbarung, Konvention) Thüringen heiße; dies aber (wie die Herausgeber
entgegen ihrer konstruktivistischen Einstiegsthese und mich irritierend dann
noch hinzusetzen) „unbestritten“ (S. 5). Es gäbe vielleicht eindeutig Personen,
Wahrzeichen (Mausoleen), Landschaften und kulinarische Eigenheiten, die von
solchen, „die zu wissen meinen, was Thüringen ist“ eindeutig als thüringisch
verstanden werden. Doch, so sagen die Herausgeber (mich wieder bei meinen
Überzeugungen abholend): „Wir wissen es nicht. […] Wir ahnen etwas, ahnen uns
in die mögliche Wahrheit voran, aber wir wissen es nicht. […] Denn: Wir sind
bei den Dichtern. Die Dichter wissen andere Dinge, wissen Dinge anders.“ (S. 6)
Nein, so schien mir diese Einleitung zu versprechen, diese
Lyrik-Anthologie wird kein Reiseführer durchs Thüringer Land sein, kein
Flurbuch (ebd.). Stattdessen würden die Dichter und ihre Texte im Blick stehen
mit ihren eigentümlich verschlängelten Routen, als Gelegenheit um zu „verfolgen,
wie sich die Poesie das Land nimmt“ (ebd.), es anlegt, justiert, verändert ... frei-
und festschreibt, es ins Offene vergrößert oder sich darin einwiegt, federnd
und opak, konvulsivisch und strikt detailliert, wildernd und ordnend … „auf das
wir wach werden im Fokussieren (so ahnen wir).“ (S. 7)
So schienen mir, mich beruhigend, die Herausgeber klar um
die Gefahren einer romantisierend-verklärenden Heimat- und Naturlyrik zu wissen
und sich offensiv dem Anspruch einen lyrischen Dekonstruktion zu unterstellen.
Versprochen, schien mir, eine durchdacht-anspruchsvolle Komposition
herausragender deutscher Lyrik aus den letzten fünfzig Jahren mit mehr oder
weniger fassbarem Lokalkollorit.
Und wenn man dann die Seite umschlägt und der Blick auf die
erste Kapitelüberschrift „Unerklärliches Gehügel“ fällt und man auf den
folgenden Seiten Autorennamen liest wie Heinz Czechowski, Günter Kunert oder
Thomas Kling und auch der Text heimat
von Tom Tritschel mit den Worten einsetzt „schon
sträubt sich das maul / und spuckt aus / …“, da glaubt man beinahe, das
Buch könne diesen deklarierten oder von mir in das Vorwort hineingedeuteten Anspruch
auch einlösen. Aber wenn man dann weiterblättert ins nächste Kapitel und man
dort ausschließlich Texte mit Bezug zu Eisenach (Wartburg, Hörselberg) findet
und dann im nächsten – kurzen – Kapitel Gedichte mit Bezug zu Gotha liest
(unter dem wiederum wunderbaren Kapiteltitel „Das Ende vom Ende ist ein schöner
Gedanke“) und dann – im nächsten Kapitel – Texte zu Orten und Landschaften im Unstrut-Hainich-Kreis
und dem Eichsfeld entdeckt, dann stellt sich doch so langsam erst Verwunderung
und dann Befremden ein.
Versteckt unter poetisch immer wieder anregenden
Kapiteltiteln offenbart sich die Konstruktion des Buches als denkbar profan:
geordnet sind die über 160 Gedichte nach ihrer GPS-Code! Nicht nur das die
Kapitel jeweils separate Thüringer Regionen thematisieren. Auch innerhalb
dieser Kapitel kommt die GPS-Sortierung zum Tragen: Gedichte, die dieselben
Orte als Anlass fürs Schreiben nehmen (sei es Nordhausen, das Kloster Veßra
oder Greiz), stehen jeweils zusammengeordnet.
Das kann man im Sinne einer Vielstimmigkeit der lyrischen
Beschreibungen konkreter Orte sicherlich auch als anregend empfinden. Allerdings
hatte ich das Vorwort gerade so gelesen, dass eine solche Ausrichtung der
Textsammlung an der faktischen, scheinbar objektiven Geographie gerade nicht
gewollt war; dass man den Dichtern folgen wollte, nicht den Fern- und
Landstraßen. Noch dazu, wo diese Sortierung seltsame Folgen hat, wie die, dass
sich im äußerst umfangreichen Weimarkapitel die Altstadt-Texte mit Goethe- und
Nietzsche-Haus und Fürstengruft (André Schinkel wunderbar melodiös und
melancholisch) dann eben deutlich separieren von den geballten
Buchenwald-Gedichten. Klar: Buchenwald liegt auf einem Hügelzug außerhalb der
Stadt und wäre nicht der weithin sichtbare Glockenturm, man könnte es fast
vergessen beim Klassikerrundgang … aber wieso sollte eine Lyrik-Anthologie
dieser geographischen Vorgabe folgen? Warum vermengt sie nicht den (fast nur
ironisch ansprechbaren) hochkulturellen Stimulus und die kaum anders als
betroffen thematisierbare Auslöschungsinstitution? Warum bricht sie nicht mit
dem üblichen Ordnungsprinzip angesichts des Unüblichen?
Aber auch wenn man die GPS-Logik der Text-Sortierung
verstanden hat und versuchsweise akzeptiert, dass hier eine Region letztlich
bloß additiv als Menge von Orten auf einer Reiseroute vorgestellt und Lyrik –
bei allem Gehalt der Einzeltexte – doch nur als Begleitlektüre beim Sightseeing
angeboten wird, zeigt sich dies als höchst unbefriedigende Lösung. Denn dann
sind plötzlich lokalpatriotische Fragen aufgeworfen, wie z.B.: Wieso bekommt
Gotha ein eigenes Kapitel, Jena aber nicht? Wieso werden die protestantischen
Gegenden um Mühlhausen mit ihrer Bauernkriegs-Vergangenheit in demselben
Kapitel abgehandelt wie das eigenbrödlerisch-katholische Eichsfeld? Wieso gibt
es keinen Text zu Suhl (schließlich eine der ehemaligen drei
DDR-Bezirkshauptstädte des heutigen Thüringer Landes)? Was ist mit Sonneberg
oder Meiningen? Wieso gibt es 38 Texte zu Weimar (inklusive Buchenwald und etwas
Ilmtal) – aber nur 12 Texte zu Erfurt (plus Arnstadt, Bischleben und
Vieselbach) und bloß drei Texte zu Gera (dagegen vier Texte im selben Kapitel
zu Greiz, Greiz!)? Und wieso eigentlich finden sich nur 19 vorzeigbare Texte
zum Thüringer Wald selbst und darunter keiner (falls ich es richtig bemerkt
habe) zu Oberhof und zum Inselsberg? Und wieso wird, Achtung Klischee, meine
Geburtsstadt Altenburg in dem einzigen Text, der ihr gewidmet ist, wieder nur
aufs Skat-Spiel bzw. das bloße Skat-Vokabular reduziert? Wäre der Text nicht
von Steffen Mensching (und zudem sein einziger im Band) und wäre ich nicht seit
jeher angetan von seinem reduzierten Wortwitz, seinen klaren Beobachtungen und
seiner oft auch politischen Doppelbödigkeit, die sich in seiner „Altenburger
Elegie“ auf Beste dokumentieren („Revolution war schon / längst nicht mehr
erlaubt“), ich wäre womöglich sogar gekränkt.
Das Problem sollte deutlich sein: Wenn man eine
Lyrik-Anthologie über Thüringen als Sammlung von Gedichten zu Orten
konstruiert, setzt man sich zwangläufig ins Unrecht. Denn selbst das Argument,
dass man einfach seriös alles zusammengetragen habe und zu manchen Orten habe es
einfach nichts oder nichts von Qualität gegeben und zu anderen – wie Weimar – dagegen
ganz viel, taugt höchsten für Archivare und ist weder landsmannschaftlich noch künstlerisch
haltbar. Es scheint ein allzu technische Lösung, die zudem fälschlich
voraussetzt, Gedichte, die Thüringen thematisieren (es ins Licht setzen, von
ihm durchleuchtet sind) müssten dies auch unbedingt textlich als klaren
Ortsbezug aufweisen können. So als wäre eine Thüringer-Wald-Erfahrung nur echt
(und nachvollziehbar, zuordenbar), wenn sie konkret und spezifisch wird, also
den Namen des Waldstücks, des Berges, des Dorfes oder des Flusses benennt, an
und mit denen etwas lyrisch Inspirierendes erlebt wurde. Ist das ein sinnvolles
Auswahlkriterium für Lyrik über Thüringen oder irgendeinen anderen faktischen
oder fiktiven Raum? Sind etwa die typisch mythologisierend-historisierenden
Ausweichbewegungen der DDR-Literatur nicht auch voller Regionalbezug … durchs
Verfremden, Weglassen, Gerade-nicht-nennen? Überhaupt, was ist einem Gedicht
eigentlich der Ort, der Anlass seiner Entstehung?
Natürlich: wenn man diesen Problematisierungen folgt, provozieren
sie die Einschätzung, schon die Idee eine thematische Gedichtsammlung über
„Thüringen als Region“ (oder auch Regionen, Länder, Staaten überhaupt)
vorzulegen, wäre letztlich und grundsätzlich als unmöglich (im doppelten
Wortsinn). Und sicherlich, ich habe es eingangs bekannt, diese Skepsis hatte
ich im Vorfeld – und sie wurde nicht unbedingt gemindert durch das optisch
allzu weiße und von der Haptik her allzu glatte fette Papier. Aber da war ja
das Vorwort mit seinem Versprechen der Dekonstruktion und da waren auch die aus
ausgewählten Verszeilen bestehenden Kapitelüberschriften und da sind auch –
nicht zuletzt – die versammelten Texte selbst, die durchaus immer wieder je für
sich anregen und überzeugen in ihrer Mischung von bekannteren und unbekannteren,
älteren und jüngeren Autorinnen und Autoren.
Aber die GPS-Code-Systematik verschreckt! Sie widerlegt die
dekonstruktivistisch anmutenden Behauptungen im Vorwort: Sie unterhöhlt die
spannend-absurde Idee einer nicht, aber doch fassbaren; keinesfalls, aber doch
irgendwie abgrenzbaren Thüringer Mentalität. Wie konnten die Herausgeber nur
auf die Idee kommen, es würde erkennbar werden, wie sich „die Poesie ein Land
nimmt“, wenn man Texte nach Orten sortiert und nicht nach ähnlichen oder sich
ergänzenden, einander widerstrebenden Anliegen, Bildern, Fragen, Formen – egal
anlässlich welcher Thüringer Lokalität sie ursprünglich mal entstanden sind. Als
wäre Thüringen, insbesondere poetisch, als Landkarte abbildbar und nicht – notwendig
– wenn dann nur über Spannungen und Differenzen von Stadt und Land,
Universalismus und Partikularismus, Natur und Kultur, Verstand und Gefühl,
Moderne und Antimoderne? Oder sollten die Leserrinnen und Leser genau hier – durch
die GPS-Sortierung – verstört und zu einem eigenen, selbstständigen Schmökern
und zwischen den Kapiteln hin und her springenden Ergründen frei gelassen
werden? Haben sich die Herausgeber etwa bewusst der thematischen Durchdringung
und Handreichung verweigert und behandeln die Leserinnen und Leser letztlich auf
diese Weise als mündiger, selbstbestimmter und reflexiver, als ich es mir
trauen – als ich es für möglich und sinnvoll halten würde? Das würde meiner
Kritik wohl die Spitze nehmen und sie zurück – auf mich selbst – werfen.
Aber vielleicht sind Lyrik-Anthologien sowieso immer nur so:
Ihr Wert liegt in den versammelten Texten und Autoren, die letztlich unabhängig
vom thematischen Rahmen des Gesamtbuches je für sich gelesen werden wollen und
müssen. Und in dieser Hinsicht ist der Band ein wahres Who is Who deutscher
Lyrik der letzten fünfzig Jahre aus Ost und West: eine anspruchsvolle und
vielstimmige Auswahl, die dazu einlädt sich in einzelnen Versen, Beschreibungen
und Gedanken zu verlieren, seine Lieblinge zu finden und andere zu überlesen. In
dem vorliegenden Fall ist der austauschbare thematische Rahmen, Auswahl- und
Publikationsanlass dann eben nun: Irgendwas mit Thüringen.
Ron Winkler & Nancy Hünger (Hrsg.). Thüringen im Licht. Gedichte aus fünfzig Jahren. Edition Muschelkalk der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V. Band 41. Eisenach: Wartburg-Verlag, 2015, 256 Seiten, ISBN 978-3-8610-399-3