Zur Erklärung
Dieses Verfahren, meine neuesten Gedichte nur für eine kurze Zeit hier öffentlich zu machen, ist der von mir gefundene Kompromiss zwischen meinem Anliegen, mit meiner Lyrik möglichst schnell und umfassend in die Öffentlichkeit zu streben (dem Gesehen-und-gelesen-werden-Wollen), und der verbreiteten Praxis in Wettbewerben und bei Verlagspublikationen , dass schon veröffentlichte Texte unerwünscht sind.
Im Hintergrund scheint dabei bei den Verlagen und Wettbewerben die Einschätzung zu stehen, online publizierte Texte seien "verbrannt" und unverkäuflich, da sie die interessierende Käufer:innengruppe längst erreicht hätten. Ich halte dies sowohl für falsch als auch unzeitgemäß. Denn einmal bieten Bücher mit einer professionellen Aufmachung und Haptik - und insbesondere mit ihrer linearen Reihung und Gegenüberstellung von Einzeltexten - einen deutlichen Mehrwert. Zum anderen sind eben in Zeiten des Internets die Verlage eben nicht mehr die alleinigen Torwächter:innen zur Öffentlichkeit: die Schubladen der Autor:innen, die sich ja auch früher schon für Brieffreund:innen und Lesekreise öffneten, haben heute andere Orte und Möglichkeiten. Sie künstlich offline und verborgen zu halten, scheint mir lebensfremd - auch wenn dies die Stellung der Verlage im Publikationswesen und ihr Geschäftsmodell relativiert und gegebenenfalls verändert.
Allerdings, an diesen Verlagsregeln lässt sich allein und durch einen Nachwuchs-Autoren, wie ich es nun einmal bin, wenig ändern - so dass ich mich mit der Idee einer nur zeitweiligen Veröffentlichung der jeweils neuesten Texte diesen Vorgaben letztlich anpasse und unterwerfe, Insofern lohnt ein gelegentliches Zurückkommen und Blättern auf den folgenden Blogseiten: Was hier zu lesen ist, verschwindet immer wieder - auch der neueste Text ist bald schon wieder weg.
Wiederveröffentlicht: Eine Gemeinschaftsrezension mit Sigune Schnabel zu Karin Flörsheim
(NACHTRAG: Inzwischen ist die Plattform fixpoetry als Gründen mangelnder Finanzierung offline gegangen; die dort ursprünglich im Juli 2017 veröffentlichte Rezension wird deshalb hier im Beitrag eingefügt)
Zwei Rezensenten / eine Meinung - Der neue Gedichtband von Karin Flörsheim: „Das Lied der Amsel vermisse ich sehr“
Karin Flörsheim hat einen Lyrikband vorgelegt, der jenseits des postmodernes Diskurses eine bemerkenswerte poetische Kraft entfaltet, besonders spürbar mit Blick auf den biographischen Kontext der Autorin. Zu dieser gemeinsamen Einschätzung kommen Sigune Schnabel und Matthias Rürup in einer aus zwei –dialogisch aufeinander bezogenen– Teilen bestehenden Rezension.Teil 1 (Matthias Rürup):
Insofern war ich sofort von der Idee angetan, beglückt geradezu, mit dir – Sigune – zusammen eine Rezension zu verfassen: Als Gelegenheit aus der potentiellen Enge und Eingefahrenheit meiner Perspektive herauszukommen und vielleicht einen wieder produktiveren Zugang zur Tätigkeit des Rezensierens zu finden.
Und dankbar bin ich für deinen Vorschlag, uns gemeinsam an dem gerade im Geest-Verlag erschienenen Band von Karin Flörsheim "Das Lied der Amsel vermisse ich sehr" zu versuchen. Und noch etwas möchte ich gleich einleitend hervorheben – es führt unmittelbar zum thematischen Kern meiner Auseinandersetzung mit diesem Gedichtband: Ohne die Möglichkeit, der Buchvorstellung in Düsseldorf Anfang Juni persönlich beizuwohnen und die Autorin in ihrem eigenen Umfeld zu sehen, hätte ich womöglich auch zu diesem Gedichtband keinen Zugang gefunden. Allerdings nicht – wie bei den zuletzt rezensierten – aufgrund ihrer, ich sag mal pauschal-vereinfachend, Künstlichkeit. Bei dem Band von Karin Flörsheim hätte mich – ohne Autorenbegegnung – im Gegenteil das Übermaß an Echtheit frappiert, erkennbar am weitgehenden Verzicht auf literarische Verfremdung, Verschiebung oder auch Brechung der herangezogenen Wort- und Bildwelten.
Nun habe ich aber die Autorin gesehen: alt, klein und zart bis zur Zerbrechlichkeit und zugleich offensichtlich – trotz oder wegen des hohen Alters, der fortgeschrittenen Erblindung, der selbst ironisch kommentierten Vergesslichkeit – eine erfahrene, starke, widerspenstige und humorvoll-spröde Frau, die zurückblicken, die urteilen kann, die weiß, wovon sie redet, was sie tut und warum genau so.
Was mir angesichts der Person und ihrer Gedichte begegnete / entgegenblickte, war wohl, um es auf einen Begriff zu bringen, mein eigener postmoderner Zynismus: Man kann doch, so bin ich eigentlich und unausgesprochen überzeugt, heute-hier-jetzt nicht mehr einfach, direkt und klar "Frieden" oder "Frohsinn" als einzelnes Wort auf eine einzelne Verszeile setzen oder von „Mutter Erde“, von „Engeln“, der „Seele“ sprechen ... das glaubt doch keiner mehr, da empfindet doch niemand mehr etwas. Das ist doch nur Behauptung. Das ist leer!
Und trotzdem macht Karin Flörsheim genau das: verwendet sie in ihren Gedichten eine auf die basalen Hauptworte des Lebens reduzierte Sprache – mit einem sichtlich ungebrochenen, unironisierten Blick auf Natur (Sonne, Mond und Sterne) und romantisch-religiöse Symbolwelten. Diese Texte sind ernst, ein ernstes – geradlinig-unverstellt-gefühlvoll-ehrliches – Schauen … fast naiv erscheinend, wäre da nicht die Tiefe eines gelebten Lebens und des nahenden, schon fühlbaren eigenen Sterbens, das die Texte für mich immer wieder ergreifend und insistierend werden lässt – trotzdem oder gerade weil die überraschende Wendung, die besondere Idee des Textes manchmal ausbleibt oder nur klein ausfällt. Ein Beispiel zur Dokumentation (S. 119): Stunde um Stunde
Stunde um Stunde
entblättert sich
die Aster der Mohn
Aus dem Kalender
fallen die Tage
Ohne Duft
blühen rote Rosen
in den Vorgärten
der schönen Häuser
verblühen verwelken
Zu schnell flieht
der Sommer
in den Herbst
mit wenig Sonne
und viel Regen
In voller Blüte
hab ich ihn
noch nicht erlebt
Eines noch bevor ich dir, Sigune die Gelegenheit zur
Entgegnung / Erwiderung überlassen möchte: Was mich bei der Präsentation des
Gedichtbandes irritiert und dann mit einem AHA hat gehen lassen, war, dass mir
die Vortragsweise der reihum von verschiedenen Lesern vorgestellten Gedichte
(die Autorin selbst las nicht) ganz überwiegend nicht gefallen hat. Erst dein
Vorlesen, Sigune, hat mir die Gedichte nahe gehen lassen – weil du, wie mir
auffiel, dich wirklich mit Pausen an die Zeilenumbrüche gehalten und die Worte
reduziert, ohne Pathos gelesen hast. Da – erst da – begannen für mich die Verse
stark zu sein: wenn das eigentlich Erwartbare, dass der Herbst auf den Sommer
folgt, dass er weniger Sonne hat und viel mehr Regen, immer von einem
Einhalten, einem möglichen Überdenken und Abweichen – einer Hoffnung auf eine
andere Aussage und Lösung begleitet wird, die dann eben genau durch das Übliche
– die Regel – enttäuscht wird. Oder wenn, ganz im Sinne eines lauten Denkens /
Abwägens, plötzlich eine so einfache, so entschiedene Offenbarung kommt, dass
sie gerade wegen dieser plötzlichen Direktheit, die ich mir in meinen Texten
wahrscheinlich gar nicht trauen, sie mir nicht erlauben würde, überrascht und
überzeugt. Auch hierzu noch einmal ein illustrierendes Textbeispiel (S. 78):
Weit entfernt von
dieser Welt
zurückgezogen
auch die alten Freunde
aus Alter und
Gebrechlichkeit
Ein Schatten nur
im Weltgeschehen
bin ich im Alter nun
Hände habe ich
und Herz
Mit aller Kraft
sorge ich nun
für meinen Liebsten
Mein Leben gehört ganz ihm
Teil 2 (Sigune Schnabel)
Zunächst unterscheidet uns – wie wir schon festgestellt haben – unsere Herangehensweise an ein solches Projekt. Dich zeichnet vor allem eine wissenschaftliche Perspektive aus; ich gehe vielmehr vom persönlichen Empfinden, vom Lesen als Erlebnis aus. Zwar verfolge ich auch den aktuellen Lyrikdiskurs. Versuche wie beispielsweise die Bewertung von Gedichten auf Grundlage der am häufigsten in der Lyrik vorkommenden Begriffe (siehe: https://www.fixpoetry.com/feuilleton/kritiken/david-krause/gedicht-aus-die-umschreibung-des-flusses, inzwischen leider offline) wirken dagegen eher befremdlich auf mich. Dennoch möchte ich hier dieses Modell erwähnen, da du – ohne den Text von Clemens Schittko als Ausgangsbasis zu nehmen – eine ähnliche Beobachtung machst. Nimmt man nun das von dir als erstes zitierte Gedicht, findet man sechs der häufigsten Substantive wieder (Tage, Rosen, Häuser, Sonne, Regen, Blüte). Und doch reicht, wie du selbst bereits angemerkt hast, eine solche Betrachtungsweise nicht aus. Im Fall von Karin Flörsheim entstehen eben nicht bloße Behauptungen oder eine träumerische Weltflucht, da die starke Glaubhaftigkeit und die große Lebenserfahrung einen Gegenpol dazu bilden.
Um also auf deine Frage zurückzukommen, ob Worte wie „Frieden“ oder „Frohsinn“ in der heutigen Zeit noch ohne ironische Brechung verwendet werden können: Ich denke, es geht nicht um einzelne Worte, sondern um das, was der Leser – heute, im Kontext des Textes – dabei empfindet. Und ich als Leser empfinde dabei etwas. In meinen Augen lässt sich der Wert eines Textes nicht an seinen Neologismen messen. Viel wichtiger ist es meiner Ansicht nach, wie die Elemente zueinander in Beziehung stehen und welche Assoziationen und Gefühle dabei ausgelöst werden. Auch die außersprachliche Wirklichkeit spielt, wie deine eigene Erfahrung zeigt, eine Rolle. So lässt sich deine Frage nicht pauschal für die gesamte Leserschaft beantworten. Wer das postmoderne Spiel sucht, ist hier falsch; wer aber schlichte Schönheit bevorzugt und im Angesicht der eigenen Vergänglichkeit Trost sucht, findet in diesen Zeilen gewiss einen persönlichen Gewinn. Ich stoße jedenfalls immer wieder auf Textstellen, deren Bildhaftigkeit mich innehalten lässt: „Schwarze Tropfen / fallen in meinen / Gedanken-Silberfluss / färben ihn Grau / das Silber läutet nicht“ oder „Dein Herz regnete / scharlachrote / Tropen in den / Mund des Mohns / auf den Feldern / wächst er für dich“. Gewiss, es ist eine weibliche Form der Lyrik. Vielleicht empfindest du als Mann ganz anders, wenn du solche Zeilen liest.
Auch mir geht es immer wieder so, dass ich auf Lesungen einen besseren Zugang zu den Texten finde. So wurde mir der Schmerz des Abschieds, der unvermeidlich mit dem Alterungsprozess verbunden ist, in den Bildern und Masken der Autorin überaus deutlich. Eines dieser Bilder ist auf S. 79 zu sehen, doch ohne die Teilnahme an der Lesung hätte ich es vermutlich nicht in seiner ganzen Tiefe begriffen.
In dieser Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Seins findet oft ein Zweifeln statt („Mein Feuer / […] Wird es weiter brennen / in der Ewigkeit / des Firmaments?“, S. 65), aber auch eine Hinkehrung zum jüdischen Glauben, dem die Funktion des Trostspendens zukommt. Insgesamt spielt die jüdische Tradition eine große Rolle in Karin Flörsheims Lyrik. Das Gedicht auf S. 155 illustriert vielleicht am besten den historischen Kontext, in dem sich die Autorin befindet:
Erinnerung
Am Morgen
am Abend
erinnere ich mich
schwarze Milch
die sie tranken
am Morgen und
am Abend
Mein Herz zieht
Feuer brennt
in meiner Seele
trink ich
rote Milch
am Abend
Bedanke mich
dass mich das
Schicksal verschonte
Der Bezug auf Celans Todesfuge wird hier überdeutlich. Die Milch ist nicht mehr schwarz, sondern rot, und das Gedicht zugleich eine Danksagung an das Überleben.
So haben hier in meinen Augen Substantive wie z. B. „Herz“ eine tiefe Verwurzelung im eigenen Dasein.
Mir drängte sich beim Lesen noch eine andere Frage auf: Wie schreibt eine nahezu erblindete Autorin noch Gedichte? Wie findet die Überarbeitung statt? Oder entstehen die Texte sozusagen aus einem spontanen Guss? Für mich als eine Lyrikerin, die viel an Texten feilt und immer wieder auf die letzte geschriebene Fassung zurückgreift, um daraus noch etwas Besseres zu machen, ist eine solche Arbeitsweise mit einer Vorstellung von Mühseligkeit verbunden, aber auch von besonderer Wachheit und Konzentration, denn gewiss müssen viele Schritte bereits im Kopf stattfinden, vielleicht sogar der ganze Entstehungsprozess, der bei mir eine langsame Arbeit auf dem Papier ist. Zumindest ansatzweise gibt das letzte Gedicht des Bandes Antwort auf diese Fragen:
Gedanken
Gedanken gleichen
einem tiefen See
mit Vergangenheit
Worte
sprießen wachsen
wie Seegras
wie Algen
und wollen ans Licht
Meine Gedanken
verankere ich
in Wortketten
lass sie ruhen
lass sie wachsen
Später binde ich sie
fest an das Papier
Karin Flörsheim: Das Lied der Amsel vermisse ich sehr. Gedichte 2014 – 2016. Mit Bildern der Autorin. Vechta: Geest-Verlag, 2017. ISBN: 978-3-86685-615-8, 163 Seiten, 12,00 €
Wiederveröffentlicht: Rezension zu Ines Geipel und Joachim Walther "Gesperrte Ablage"
(NACHTRAG: Inzwischen ist die Plattform fixpoetry als Gründen mangelnder Finanzierung offline gegangen; die dort ursprünglich im Februar 2016 veröffentlichte Rezension wird deshalb hier im Beitrag eingefügt)
Falsche Leben
Ines Geipel und Joachim Walther berichten über in der DDR verbotene und verkrüppelte literarische Stimmen
Es ist eine erschreckende Sammlung, die Ines Geipel und
Joachim Walther hier vorlegen: an die hundert Einzelschicksale aus vierzig
Jahren DDR, die eines gemeinsam haben – ihre literarischen Ambitionen wurden in
der DDR und durch die DDR (ihre Staatsorgane) verfolgt, beschnitten, bestraft und
gar nicht selten abgewürgt / getötet. 430 Seiten hat dieses im strengen Sinne
quälende Buch. Der geschichtlichen Detaildarstellung voran stehen zwei Essays
der beiden Autoren. Ines Geipel ordnet anlässlich einer neuerlichen Verfilmung
den Roman „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz als verlogenen,
geschichtsklitternden Buchenwald-Mythos ein, der die Verbrechen der KPD-Kapos
und späteren DDR-Funktionäre übertünchen sollte und Joachim Walther äußert sich
zusammenfassend zum Programm des Archivs unterdrückter Literatur der DDR, das
er und Geipel seit 2001 zusammengetragen haben. Dann folgt auf ca. 270 Seiten
eine Chronik des Schreckens: eine Darstellung des andauernden Verfolgungswahns
und der Unbarmherzigkeit des DDR-Regimes gegenüber stärker abweichenden, hinterfragenden
oder den vorgegebenen realistisch-sozialistischen Rahmen verlassenden
Autorinnen und Autoren. Konzentriert auf konkrete Schickale einzelner Personen
oder lokaler Literaturgruppen durchschreitet die Darstellung neben der
Nachkriegszeit alle vier Jahrzehnte der DDR. Ines Geipel schildet dabei die
ersten zwanzig bzw. fünfundzwanzig Jahre bis zum Ende der 1960er Jahre, Joachim
Walther dann die Jahre von 1970 bis 1989. Was dabei deutlich und insbesondere
von Joachim Walther auch explizit so ausgesagt wird, ist, dass die engmaschige
und engherzige staatliche Verfolgung unpassender literarischer Stimmen nicht
nur ein Phänomen der stalinistischen Anfangsjahre war, sondern sich bis in die
Endphase des zweiten deutschen Staates durchzog. Verändert haben sich –
tendenziell – die staatlichen Anlässe und Formen der Intervention sowie die
Härte der Bestrafung, wenngleich der Grundtatbestand der politischen Verfolgung
und der staatlichen – insbesondere geheimdienstlichen – Willkür uneingeschränkt
erhalten blieb. Am Ende des Bandes findet sich neben einem Personenregister und
einem Literaturverzeichnis, das vor allem die ebenfalls von Geipel und Walther bei
der Büchergilde Gutenberg herausgegebenen Bände der Verschwiegenen Bibliothek
aufführt, eine Gesamtaufstellung der im Archiv unterdrückter Literatur in der
DDR erfassten Autorinnen und Autoren mit ihren Biographien, den im Archiv
einsehbaren Texten und ihren sonstigen
Veröffentlichungen.
Die Art der Darstellung und das Anliegen des Bandes
verbieten geradezu eine weitergehende Kommentierung und Einordnung. Persönliche
Schicksale sind gerade wenn es sich um Leidensgeschichten handelt, per se und
eingeschränkt schrecklich, unzumutbar: ein Skandal. Ihre Sammlung als sich –
strukturell ähnlich – immer wieder wiederholende Ereignisse verweist auf menschenverachtende
Muster, gewalttätige Routinen oder sogar verbrecherische Strukturen, die die
DDR prägten. Ob und wie verallgemeinerbar, gesetzmäßig und unabwendbar, nicht
nur an bestimmte historische Konstellationen und Personen gebunden, diese
brutale, zerstörerische staatliche Praxis zu nennen ist, dass können
Einzelfälle allerdings nicht aufklären. Auch wenn das Urteil der beiden Autoren
des Bandes eindeutig ist: Für sie bedeuten all die sichtlich zerstörten Leben
den moralischen Bankrott des gesamten sozialistischen bzw. kommunistischen
Projekts.
Insbesondere Joachim Walther ist bei dieser Verurteilung ausgesprochen
scharf und deutlich. Sie ist in seiner Nacherzählung der
Unterdrückungsgeschichte literarischer Stimmen seit den 1970er Jahren ständig
präsent als mitlaufender und sich steigernder Kommentar. Genau dies schwächt
aber auch die Darstellung – Walther deutet viel stärker als zu zeigen. Er hat,
dass wird deutlich, von vornherein eine Position und muss diese, so als würde
er den Fallgeschichten und dem Urteil der Leserinnen und Leser nicht völlig vertrauen,
immer wieder erklärend und zusammenfassend einbringen.
Ganz anders als Ines Geipel, die in ihrer Schilderung der
ersten zwanzig DDR-Jahre sprichwörtlich gefangennehmende Lebensgeschichten
arrangiert und vorführt: das Leiden, die Verkrüppelung nicht nur benennt und
faktenmäßig aufführt, sondern in geradezu lyrisch zu nennenden Wortkaskaden als
tragisches Schicksal greifbar macht, das man niemanden, wirklich niemanden
wünschen würde. Das ist stellenweise suggestiv und – insbesondere was das
Argumentieren mit rhetorischen Fragen angeht – manchmal auch manipulativ (nicht
mehr wissenschaftlich neutral): aber im Sinne des sichtlich verfolgten Ziels –
betroffen zu machen, das DDR-Regime anzuklagen, es zu verdammen – auf jeden
Fall effektiver.
Dabei gelingt es Geipel auch, dem Leser kräftige Eindrücke
davon zu vermitteln, das hier immer wieder besondere literarischen Stimmen kaputt
gemacht wurden – ihre Eigentümlichkeit und Individualität zu betonen, so dass
ihr staatlich verursachtes Verkümmern als Verlust nachfühlbar wird. Walther
hingegen interessiert sich – zumindest erweckt seine Darstellung den Eindruck –
eher für die politische Positionierung, den Dissidentenstatus der verfolgten
Autorinnen und Autoren und weniger für ihre eigentümliche (zerbrochene,
verhinderte) literarische Stimme. Statt emphatisch zu schildern, bemüht er
lediglich Autorenreferenzen oder eigene (analytische) Wertungen, dass Gabrielle
Stötzer beispielsweise viel emanzipierter und feministischer sei als Christa
Wolf. Oder er referiert über Inhalte und Themen (z.B. seitenlang über die
Einzeltitel und Einzelteile des Fragmentromans von Thomas Körner), statt – wie
Geipel – den eigentümlichen Ton, die Poetologie der Autorinnen und Autoren
herauszuarbeiten. So fällt es teilweise schwer eine innere Beziehung zu den von
Walther dargestellten Literaten herzustellen (also ihre besondere Tragik
mitzufüllen, nicht nur die Tragik und Verwerflichkeit jeglicher politischen
Verfolgung) – insbesondere wenn die exemplarisch abgedruckten Texte entweder
wenig zugänglich /spröde daher kommen (wie zum Bespiel im Fall von Thomas
Körner) oder literarisch nicht recht überzeugen. Merkbar wird dies, wenn die
widergegebenen Autorentexte einmal auch für sich stehen können (aus sich selbst
heraus Kraft haben), wie im Falle der Gedichte von Radjo Monk.
Insofern fallen die beiden jeweils von Geipel und Walther
verfasste Textteile deutlich auseinander: gibt es – stereotypisierend
gesprochen – eine eher weibliche und männliche Seite der Geschichtsdarstellung,
die man sich alles in allem stärker verbunden, weniger kontrastierend gewünscht
hätte. Unabhängig davon ist das Buch zu würdigen als eine fordernde –
insistierende, bisweilen etwas inquisitorische – Lektüre (insbesondere wenn es,
wie den Rezensenten, zur Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft und den
zum Glück nicht mehr erlebten Verfolgung einlädt). Man kann, das ist Verdienst
dieses Bandes als auch des dahinter stehenden langjährigen Forschungsprojekts, nun
nicht mehr nicht wissen, wie schlimm, wie eng es war und werden konnte in der
DDR gerade für Menschen, die sich zum literarischen Schreiben gerufen fühlen.
Ines Geipel / Joachim Walther (2015). Gesperrte Ablage. Unterdrückte Literaturgeschichte in Ostdeutschland 1945 – 1989. Düsseldorf: Lilienfeld Verlag. 430 S., ISBN 978-3-940357-50-2, 24,90 €.